"DEPECHE MODE: LIVE IN BERLIN. A FILM BY ANTON CORBIJN": DEUS EX MACHINA
Playback liegt ihnen einfach nicht: Als Depeche Mode im März 2013 erstmals wieder das deutsche Unterhaltungsfernsehen bespielen, gehen ihrer frisch erdachten Delta-Maschine bereits auf halbem Wege die Öl-Vorräte aus.
Bühnen-Derwisch Dave Gahan präsentiert sich in Markus Lanz‘ Wetten-Dass-Parodie als rostanfällig steifer Zinnmann aus Frank L Baums Kinderbuch-Klassiker "Der Zauberer von Oz", Chef-Denker Martin L. Gore verschmilzt, Glitter-Dress zum Trotz, erstaunlich hölzern mit den Kulissen – und Andy "The Brain" Fletcher führt zur Abwechslung mal wieder seinen berühmt-berüchtigten Zaubertrick vor, mit dem er, als unbeteiligtes Bühnen-Phantom, erfolgreich hinter den dunklen Gläsern seiner Sonnenbrille verschwindet. Dank holpriger Einführung durch den Moderator, der mit seinem rührseligen Text-zum-Bild die obligatorischen Drogen- und Alkoholexzesse aus den Neunzigern durch den Fleischwolf dreht, kippt die Performance schnell in die Groteske: "Good to see you, healthy and in good shape", schmettert Lanz dem seltsam zwergenhaft wirkenden Gahan entgegen, der nach herzigem Frontal-Angriff durch den Gottschalk-Ersatzspieler erschrocken in den Hintergrund zurückweicht. Nachdem er auch noch die Bandmitglieder verwechselt und damit sämtliche Musiker erfolgreich von der Bühne vergrault hat, will der hoffnungslos synthie-o-phobe Moderator wohl etwas besonders Nettes sagen – und schickt dem Kult-Trio tatsächlich noch den freudigen Ausruf "Eine sehr talentierte Band!" hinterher.
Zum Glück scheinen sämtliche Beteiligte die verkrampfte Slapstick-Nummer halbwegs unbeschadet überstanden zu haben: Als Depeche Mode endlich, nach ausgedehnter Stadien-Reise, im November 2013 in der Berliner o2-Arena gastieren, läuft die Delta-Maschine zur absoluten Höchstform auf.
Es raucht, dampft und knistert – die volle Dröhnung also, die da nicht nur aus der Soundanlage tönt, sondern zwischen Bühne und Zuschauerraum in jeder Sekunde deutlich spürbar wird. Mittendrin, statt nur dabei: Regisseur und Foto-Künstler Anton Corbijn, der dem zweitägigen Spektakel mit seinem Konzertfilm "Alive in Berlin" ein klanggewaltiges Denkmal setzt.
Im Box-Set mit Live-DVD, Audio-Set sowie einer Bonus-Blu-Ray (Delta Machine 5.1. Audio) ist dieses Konzerterlebnis "to go" ab sofort im Handel erhältlich.
Es braucht keine grellen Leucht-Buchstaben oder schweißdurchtränkten Fetisch-Posen, um das Regalbrett mit den Neuerscheinungen erstaunlich souverän zu besetzen. Corbijns Berlin-Box mit ihren handgeschriebenen Lettern erinnert statt dessen eher an die bewusst auf dilettantisch getrimmten Fluxus-Plakate der späten Sechziger - oder die belgische Post-Punk-Ästhetik.
Nicht mehr als ein kleinformatiger Schmuckkarton, auf dem der in Fan-Kreisen heiß ersehnte Inhalt lediglich durch den schwarzen, bewusst unsauber gehaltenen Edding-Schriftzug verkündet wird: "Depeche Mode Live in Berlin. A Film by Anton Corbijn."
Schwarz, weiß und grau, die archivarischen Nicht-Farben des Dokumentarfilms, geben bei dem minimalistischen Produktdesign dieser Schachtel ganz klar den Ton an. Nur in dem grell-orangenen Hochglanz-Streifen am rechten Bildrand schwingt zumindest ein leiser Hauch von (Live-) Dynamik mit. Eine echte Peep-Show, die Corbijn hier vorlegt. Spätestens nach Öffnen der Box wird klar: Das Konzept "Strip-Tease" geht auf.
In schmalen Pappschubern schmiegen sich Discs und Booklet aneinander; jede der fünf Hüllen hat der Regisseur, im Sinne seines künstlerischen Gesamtkonzepts, mit einem ähnlich horizontalen Längs-Streifen wie das Cover versehen. Nur die Motive variieren, zeigen Ausschnitte aus den Live-Projektionen. Fast wirkt es, als würde der graue Titel hier langsam zur Seite gleiten – und, ausgehend vom rechten Bildrand, das darunter Verborgene enthüllen.
Auch mit dem wenig ikonischen Booklet, das sich eher wie eine Art Leitfaden für die technische Bühnen-Einrichtung liest, spielt Corbijn mit den Erwartungen hartgesottener "Devotees", die "ihre" Band als eine Art Religion betrachten und Frontmann Gahan als "Personal Jesus" verehren. Wohl ganz bewusst taucht der charismatische Sänger hier nur am Rande auf; die wenigen Live-Schnappschüsse stellen die übrigen Bandmitglieder, insbesondere Gore und seinen musikalischen Partner Peter Gordeno, der im Bühnen-Programm den Keyboarder gibt, in den Fokus.
Dann liegt, endlich, die erste Disc im Player: "Live in Berlin", eine farbenreiche Konzertmontage, für die Corbijn das Rohmaterial zweier Bühnen-Drehs zu einem erstaunlich homogenen Gesamtbild vermengt hat.
Obwohl sich bei einem Projekt dieser Größenordnung kleinere Schönheitsfehler fast automatisch ergeben, gelingt es dem Regisseur, die Bänder zu einer harmonischen Einheit zu verschmelzen. Hauptaugenmerk liegt hier nicht auf der "Liebe zum Detail" – wer ganz genau hinschaut, sieht Mikrofone munter von der linken in die rechte Hand wandern; Laufwege finden sich plötzlich unterbrochen und einzelne Handlungen werden oft, wider jeder natürlichen Logik, zu Ende geführt. Das alles macht aber wenig, wenn es am Ende der Sache dienlich ist.
Denn, Hand auf Herz, wer achtet im Eifer des Gefechts schon auf Kostüme oder gar Requisiten der Akteure?
Der Live-Moment stirbt mit dem Augenblick; kein Film dieser Welt könnte diesen Erlebnisfaktor in Bilder übersetzen. Auch in der heutigen Zeit nicht, wo es mittlerweile völlig selbstverständlich geworden ist, ganze Tages-Choreografien via ungebremsten Selfie-Wahns für die wehrlose Nachwelt festzuhalten.
So ist es bei Corbijn auch eher die Stimmung, die zählt. Und die eigene, künstlerische Arbeit, deren visuelle Gewalt das Bühnenspiel klar dominiert. Da überrascht es wenig, dass die beiliegenden Audio-Discs "nur" den Soundtrack zu diesem Mammut-Projekt bilden: Selbst die starke Live-Präsenz von Frontmann Gahan, dem oftmals nur eine winzige Geste reicht, um das Heer der Massen nach seinem Gusto zu dirigieren, kommt gegen die Leinwand mit ihrem heraufprojizierten Spektakel kaum an. Deus ex machina.
Man muss die "Delta Machine"-Ästhetik nicht lieben; ihrer Faszination jedoch kann man sich im Grunde kaum entziehen.
Das liegt in erster Linie an der präzisen Sicherheit und enormen Kreativität, mit der Corbijn sein Thema variiert und bis ins kleinste Detail durchspielt – ohne das Konzept zu erschöpfen oder jemals an dessen Grenzen zu geraten. Nicht nur ein optisches Highlight sind deshalb die Projektionen zu "Enjoy the Silence", für die der Regisseur weibliche Schlangenmenschen wie schöne Schmetterlinge unter Glas gefilmt hat. Unmerklich bewegt, werden die grazilen Körper in dieser hochauflösenden Kunst-Installation in das dominante Delta-Motiv gepresst: Der vollkommene Sieg der künstlerischen Form über die Materie.
Schade nur, dass diese wertigen Einspieler nicht, wie in früheren Veröffentlichungen, im Bonus-Material der DVD zu finden sind. Dafür liegt der Mitschnitt des Konzerts merkwürdigerweise gleich doppelt vor – einmal mit, einmal ohne Interviews.
Zu Beginn der eigentlichen Film-Doku, die erst mit der zweiten Disc über das TV-Gerät flimmert, erfährt der Zuschauer schnell: "Alive in Berlin", damit sind an dieser Stelle nicht nur Dave Gahan, Martin L. Gore und Andrew Fletcher, sondern vor allen Dingen auch die Fans gemeint, deren energetische Kraft im Zuschauerraum das eigentliche Live-Erlebnis trägt und beflügelt.
"Was bedeutet euch Depeche Mode?", will der Regisseur deshalb gleich eingangs von der wartenden Menge wissen, die in frostiger Kälte dem Einlass in die o2-Arena entgegenfiebert. Viele Fans sind für diesen Gig erwartungsgemäß extra aus dem Ausland angereist, haben sich in bester Fanboy-Manier im Stile der Ikonen gekleidet oder sind in Devotionalien aus dem Merchandise-Katalog gehüllt.
"Depeche Mode bedeutet mir alles", lautet die einstimmige Antwort. Was dieses "alles" am Ende jedoch für den Einzelnen meint, das lässt sich mit Worten allein nicht erklären. Eine Lebensart, eine ganze Religion – oder schlicht und ergreifend der Soundtrack einer rastlosen Generation, die gemeinsam mit ihren Helden erwachsen geworden ist?
Es ist dieses unerklärliche Funkeln in den Augen, das eine Art magische Verbindung zwischen den Fronten schafft. Dem es gelingt, nicht nur die Anhänger vor der Arena in ihrem gemeinsamen Kult zu verknüpfen, sondern diese namenlose, im Auge des unbeteiligten Betrachters fast ent-individualisiert wirkende Menge, als eine Art viertes Bandmitglied untrennbar mit der Einheit Depeche Mode zu verschmelzen.
"Ich liebe Black Celebration. Wenn man von Berlin und den deutschen Fans redet, sagt das im Grunde alles", verrät Toast-Hawaii-Fan Andrew "Fletch" Fletcher im vertraulichen Zwiegespräch mit dem Regisseur, während aus dem Hintergrund die Kuppel der Berliner Gedächtniskirche winkt. Hier erst sei es gelungen, die Musik auf eine andere Ebene zu bringen; die erfolgreich vollzogene Wende also von einer Pop- hin zu einer Rockband.
Weniger gelungen übrigens: Die Untertitel der DVD, in denen es vor teils unfreiwillig komischen Rechtschreibfehlern und grammatikalischen Patzern nur so wimmelt.
Anton Corbijn erlebt die Band hinter den Kulissen aus nächster Nähe, versucht, die Menschen hinter dem Mythos zu zeigen. Dabei inszeniert er seine Interview-Sequenzen als eine Art Kammerspiel, in der jeder einzelne Gesprächspartner, von den übrigen Charakteren streng separiert, seinen eigenen Raum erhält.
Im ständigen Wechsel mit dem eigentlichen Konzert-Film, dessen dynamisch farbreichen Passagen die eher monoton gehaltenen, statischen Schwarzweiß-Blöcke umrahmen, ergeben sich spannende Kontraste, die diesen ruhigen Momenten gesteigerte Intensität verleihen.
Anders als in den Bühnen-Passagen, wo Corbijn seine äußerst musikalischen Schnitte ganz bewusst einsetzt, um Live-Dynamiken zu verstärken und die Rhythmik der einzelnen Songs in Bilder zu übertragen, hat der Regisseur an dieser Stelle auf übermäßige Bearbeitungen verzichtet. Auf diese Art und Weise bleiben sprachliche Eigenarten erhalten; Überlegungen können vor der Kamera quasi in Echtzeit reifen. Am Ende wirkt das Material durch diesen Kunstgriff sehr roh und unverfremdet.
Dokumentarische Echtheit in homöopathischen Dosen also; Dichtung versus Wahrheit. Immer dabei: Die Kamera, mit deren Hilfe der Regisseur tief in die Seele seines Gegenübers dringt.
Wenn er sich selbst betrachte, freue er sich natürlich schon, "dieser Typ da oben" geworden zu sein, erzählt Dave Gahan. Anders als die übrigen Bandmitglieder hat sich der Frontmann offenbar gegen ein Interview in Berlin entschieden; der Blick durchs Panorama-Fenster verrät den Ortswechsel in die amerikanische Wahlheimat. Dennoch: Es mache ihm noch immer viel Spaß, diese Rolle zu verkörpern, verrät der Exil-Engländer. Sagt es und schmunzelt, während hinter seinem Kopf ein kleines Bötchen durch das New Yorker Hafenwasser tuckert. Wenn Corbijn Sekunden später in den Live-Modus wechselt, mag man kaum glauben, dass dieses bescheidene, schmächtige Kerlchen mit dem gleichnamigen Bühnen-Monster identisch sein soll, das die Fans mit nacktem Oberkörper und zweideutigen Posen in geifernde Extase versetzt.
Nur dem stillen Poeten, Martin L. Gore, sitzt wie immer der Schalk im Nacken. Angesprochen auf seinen offenkundigen Gitarren-Fetisch, bemerkt er trocken: "Sollte ich jemals etwas sammeln, das nichts mit Musik zu tun hat – erschießt mich einfach!" Dazu passt die einsame Bonus-Sequenz auf dieser DVD; ein knapp achtminütiges, kauziges Akustik-Set in einem stillgelegten Berliner Luxus-Bordell, das Gore und Keyboarder Peter Gordeno ohne jeglichen Firlefanz (und die übrigen Bandmitglieder) eingespielt haben.
Hier tritt Regisseur Corbijn erstmals vollständig hinter seinen Film zurück, überlässt stattdessen Chef-Denker Gore die Bühne. Der Zuschauer kann nur ahnen, welch großer, künstlerischer Respekt hier zwischen den Zeilen verborgen liegt.
|| TEXT: ANTJE BISSINGER | DATUM: 18.11.2014 | KONTAKT | WEITER: "RAVEL: KONZERT FÜR EINE TAUBE SEELE" >
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