8/18: "GRENZWELLEN EINS", "GRENZWELLEN ZWEI", "LA DANSE MACABRE 4", "QUINTESSENCE 2008-2018", "ANOTHER COLD WORLD 2" - MEHR GEHT NICHT!
Ein guter Sampler steht und fällt mit dem Menschen dahinter, dem Compiler. Er ist für die Auswahl (und auch Anordnung) der Titel verantwortlich. Bestenfalls gelingt ihm eine durchgehend geschmeidige Setlist, die - unabhängig von der Bekanntheit der einzelnen Songs - Lust macht, die Zusammenstellung ein weiteres Mal duchzuhören.
Für die digital zu erwerbenden zwei Folgen der "Grenzwellen"-Reihe zeichnet ein Mann verantwortlich, der auch für die UNTER.TON-Redaktion große Wichtigkeit besitzt. Als nämlich Eckert "Ecki" Stieg seine kultig verehrte Radiosendung "Grenzwellen" vor mehr als vier Jahren wiederbelebte, konnten wir mit ihm diesbezüglich ein intimes Interview führen, welches gleichzeitig zum Startartikel dieses Online-Magazins wurde. Was nun den Aspekt des wiederholten Durchhörens am Stück anbelangt, wird es hinsichtlich der Materialfülle, die es auf diesen beiden Kompendien zu entdecken gibt, etwas schwierig, um nicht zu sagen höchst anspruchsvoll. Über mehr als vier Stunden Spielzeit pro Sampler stehen nämlich hier zu Buche. Das wäre, in CDs umgerechnet, eine mindestens vier Silberlinge umfassende Musikbox, die der Radiomoderator für moderate zehn Euro an den Mann bringen möchte (wobei natürlich auch noch ein bisschen mehr gespendet werden darf). Angsichts der Arbeit, die hinter dieser Zusammenstellung steckt - einige Songs sind sogar bislang unveröffentlicht oder Exklusivbeiträge - eigentlich ein Witz. Zumal Ecki Stieg nicht nur ein großer Musikliebhaber, sondern auch unermüdlicher Forscher nach den Klangjuwelen abseits der Alternativ-Hauptstraße ist. Er achtet dabei weder auf bekannte (Szene-)Namen, noch auf die Länge der Nummern. Da kann ein Beitrag auch schon mal 18 Minuten in Anspruch nehmen (Wings Of An Angel: "Our History Will Always Continue To Haunt Our Future"). Der eine oder andere "Star" taucht dann doch hie und da auf. DAF-Mann Gabi Delgado zeigt sich bei "Sierra Luna" sehr tiefenentspannt wie die gesamte Zusammenstellung, Ulrich Schnauss hat sogar "Ein Feld Für Ecki" bestellt, und Herr Stieg höchstpersönlich beschließt den tongewaltigen Reigen der ersten "Grenzwellen"-Folge mit einer Co-Produktion mit Martin Rosenkranz ("Ogrody"). Wichtiger allerdings für diese synapsenanregende Mischung aus Dark Ambient und Down Beat, gepaart mit einer Prise Noise und neuklassischer Kleinode ist, die vorgegebene Reihenfolge der Nummern einzuhalten und den Zufallswiedergabeknopf ausgeschaltet zu lassen (was auch als zusätzlicher Hinweis auf der Bandcamp-Seite nachzulesen ist). Das ist kein schrulliger Spleen eines Kult-Radio-DJs, der sich für besonders fantastisch hält, sondern vielmehr der leise Wunsch, dass man als Konsument das große Ganze der beiden "Grenzwellen"-Zusammenstellungen begreift. Ecki Stieg macht sich nicht nur Gedanken zu den einzelnen Songs an sich, sondern setzt sie auch in Relation zu den übrigen Nummern, sodass vor sich hinscheppernde und brummende Noise-Fetzen wie "Tbc" von FabrikC in unmittelbarer Nähe zu den minimalistischen an Ludovico Einaudi oder Yann Tiersen erinnernden Pianoklängen von Bruno Bavotas "Passengers" stehen können, ohne sich fremdartig oder gar deplaziert anzufühlen. Auch das Ende der zweiten Folge mit der ätherischen 22-Minuten-Meditation "Choral Collage" von SymphoCat löst, wie alle anderen Lieder zuvor, das große Versprechen ein, das uns Ecki Stieg gegeben hat: Musik mit Anspruch und Tiefgang zu kredenzen. Und in der Tat sind die mehr als acht Stunden Musik eine Offenbarung für all jene, die Musik nicht nur hören, sondern in ihrer Gesamtheit erfahren wollen.
Auf ähnlicher Mission ist auch Axel Meßinger, den UNTER.TON ebenfalls seit einiger Zeit begleitet. Seine "At Sea Compilations", die er zunächst frei zur Verfügung und auf Spendenbasis ins Netz gestellt hat (mittlerweile verlangt auch er einige sozial verträgliche Euros pro Zusammenstellung), sind leidenschaftlich gesammelte Werke von wirklich unabhängigen Künstlern jedweden Genres. Auf "La Danse Macabre 4" wendet Meßinger sich wieder einmal den weltschmerzlichen Klängen zu. Wie auch Stieg, setzt er sich intensiv mit dem vorliegenden Material auseinander, um einen idelaen Spannungsbogen zu generieren - mit dem einzigen Unterschied, dass er seinen Sampler in zwei Teile dividiert. Den Anfang machen tradierte Tanz-Motive wie die 80er-induzierten Synthielinien, die uns Burntime mit ihrem schmissigen "Talking To A Wall" anbieten, wandelt sich daraufhin jedoch bei "Conceptions" von Noxious Noise in anheimelnden Düster-Rock. Das zweite Set fällt wesentlich experimenteller aus, lässt beispielsweise mit der fragilen Ballade "Alone With The Stars" von Ofeliadorme die Herzfrequenz deutlich runterfahren oder mäandert in Alberto Nemos "Avon Repus" auf rückwärtslaufenden Gesängen in surreale Gefilde (Ultravox's "Rage In Eden", anyone?) und bietet sogar Platz für das Quasi-Hörspiel "The Grayest Place On Earth...Earth Alone" von Theatrum Spirituum. Mit der vierten Folge von "La Danse Macabre" beleuchtet Meßinger einmal mehr - und noch eindringlicher - den wahren Geist der Schwarzen Szene. Denn dieser besteht nicht nur aus harlekinesken Faschingsmitgliedern, die sich allwochenendlich in den Clubs versammeln, um zu dürren Klängen aus der Retorte und mit Texten, die eine deutliche Koprolalie-Neigung aufweisen, zu tanzen. Der "makabre Tanz" dieses Samplers ist ein anderer: Er kommt ohne Horror-Effekthascherei aus und will nicht mit Obszönitäten locken, sondern das intensive Gefühl der Niedergeschlagenheit und das Zerwürfnis des Individuums mit seiner Umwelt hervorheben. Wer zu "La Danse Macabre 4" tanzt, tut dies nicht aus einem Balzverhalten heraus, sondern aus dem inneren Bedürfnis, seinem unerklärlichen Weltschmerz Ausdruck zu verleihen.
Auf "La Danse Macabre 4" haben es übrigens auch The Search mit "Wallflower" geschafft - eine Band, die beim Independent Label AFMusic aus dem Münchner Umland beheimatet ist und zu den vielleicht zugstärksten Gruppen dieser unabhängigen Plattenfirma gehört. Der etwas plakative Firmenspruch "Join The Darkside - We Have The Music" mag zwar bei einigen ein ungläubiges Stirnrunzeln hervorrufen, in puncto melancholisch getränkte Sound versteht sich AFMusic aber blendend, ohne zu sehr die gängigen Klischees zu bedienen. Das hat nun zur Folge, dass dieses Label, das 2008 als reiner Internetvertrieb gestartet ist, einen runden Geburtstag feiern darf. Eine Dekade lang schon trägt AFMusic dazu bei, die Vielfältigkeit der alternativen Musikszene aufrecht zu erhalten. Zum Dank wird nun die Zusammenstellung "Quintessence 2008-2018" für lau via Bandcamp rausgehauen. Insgesamt 30 Bands sind dort vertreten, die zusammen mit dem Label gearbeitet haben. Dabei changiert das klangliche Spektrum von rotzigen Electro-Rock-Nummern (Notes From The Underground: "Greed") über verdunkeltem Punk ("Insane Inside" von Smoke Fish) bis hin zu federleichtem Melancho-Pop (Emerald Park: "At The Mall") und klassischem Gothic-Rock ("Underground" - DCS Radio). Einige Künstler wie Rebentisch, Principe Valiente oder auch das ungooglebare Projekt (((S))) haben sich schon einen größeren Fankreis erspielen können. Doch auch die anderen ambitionierten Künstler stehen ihnen in nichts nach. Das liegt allen voran an der angenehmen Unaufdringlichkeit der Stücke. Allen 30 Beiträgen für "Quintessence 2008-2018" merkt man die Freude und Leidenschaft an, "ehrlich" in ihrer Attitüde zu sein. Am Ende ist das auch ein Verdienst von AfMusic, diesem kleinen, aber feinen Label, das mit seiner Arbeit einmal mehr beweist, dass es immer noch so etwas wie eine lebendige Gothic-Subkultur gibt, deren aktive Gestalter durchaus musikalisches Talent besitzen.
Selbstverständlich dienen Label-Sampler auch der schmuckvollen Präsentation des eigenen Rosters, quasi ein tönernes Defilee, das auch ein Stück weit der Selbstbeweihräucherung dient. Doch gerade das Cold Beats Records Label aus Barcelona darf mit seinen Pfunden wuchern: "Another Cold World 2" ist eine durchgehend postnukleare Tanzparty voller Würde und Grandezza. Hier findet der minimale Coldwave mit dezentem EBM-Einschlag von Paradox Obscurs "Superbia" ebenso Gehör wie der überbordend arktische Mix aus Post Punk und Shoegaze, den L'Avenir mit "Lilac Wind" aufs betonierte Parkett legen. Und "Connections" von Blind Seagull prischt mit seinem donnernden Rhythmen und einem Gesang, der sich mit der Wall Of Sound vermischt, unmittelbar in die Blutbahn vor. Genauso ein Highlight ist sicherlich "La Tempête" von La Mécanique, das mit der vielleicht unwiderstehlichsten Synthesizer-Sequenz seit langem aufwartet. Am Ende kredenzen uns die Detox Twins mit ihrem "Dreaming Of Florida" einen versöhnlichen, von sanfter Hoffnung durchzogenen Synthie-Pop, der entfernt an Marsheaux erinnert. Mit insgesamt 16 Songs der kürzeste aller hier präsentierten Sampler (und auch auf haptischem Tonträger erhältlich), fängt "Another Cold World 2" die Stimmung einer neuen Generation von Musikern ein, die sich ebenfalls gegen den kommerziellen Raubbau an der Schwarzen Szene stellen und mit ihren dezidiert regressiven Stücken den Anfängen einer Subkultur wehren, die durch künstlerische Unnahbarkeit und endloser Schwermut eine reizvolle Aura erschaffen hat. Wenig ist davon noch bei den großen Festivals zu sehen. Es bedarf da schon die Abgeschiedenheit einer Fabrikruine (oder zumindest der eigenen vier Wände) und die Songs dieses Samplers, um zu verstehen, warum das amorphe Gebilde "Gothic" einmal ziemlich cool gewesen ist.
||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 08.08.2018 | KONTAKT | WEITER: TOP 5 - ALTERNATIVE SCHWULLESBISCHE LIEDER>
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atseacompilations.bandcamp.com
shop.af-music.com/album/quintessence-2008-2018
coldbeatsrecords.bandcamp.com
Covers © Grenzwellen/Katrin Rathsfeld, At Sea Compilations/Gotikatur, AFMusic, Cold Beats Records
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