1/24: KARWENDEL, MÅRTEN LÄRKA, JOHNROSE, KOMPLIZEN DER SPIELREGEN, BAUMARKT, JAPAN REVIEW - AUFGESCHOBEN, NICHT AUFGEHOBEN (DER NACHBEARBEITUNG ERSTER TEIL) - UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR

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1/24: KARWENDEL, MÅRTEN LÄRKA, JOHNROSE, KOMPLIZEN DER SPIELREGEN, BAUMARKT, JAPAN REVIEW - AUFGESCHOBEN, NICHT AUFGEHOBEN (DER NACHBEARBEITUNG ERSTER TEIL)

Kling & Klang > KURZ ANGESPIELT > 2024
Mal ein bisschen hinter die Kulissen geblickt: Wenn die Musikerinnen und Musiker nicht selber ihre Kunst den Presseorganen zuschicken, machen das entweder die Plattenfirmen oder Musik-Agenturen. Und in diesen sitzen nicht selten auch Musikschaffende. Mit Sebastian Król verbindet UNTER.TON eine langjährige Zusammenarbeit. Seine Agentur Backseat reichte schon einige großartige Scheiben aus dem Indie- und Folksegment bei uns ein. Der letzten Bemusterung lag die EP "Geteiltes Herz" bei. Karwendel heißt die Band, benannt nach dem Berg in den bayerischen Alpen. In einem beiliegenden Zettel erklärt Sebastian, dass es sich dabei um sein eigenes Projekt handelt, das er zusammen mit wechselnden Musikern realisiert hat. Was er nicht erwähnt: Die EP bietet die vielleicht schönsten fünf Lieder, die anno 23 in deutscher Sprache verfasst worden sind - und mit "In der Sonne" ein tiefenentspanntes Instrumental als krönenden Abschluss. Auf "Geteiltes Herz" finden sich Songs voller Wärme und Kontemplation. Dafür verantwortlich zeichnen das stark in den Vordergrund gesetzte Saxophon und die markante Klarinette, die sanft von Wellen aus akustischer Gitarre und Schlagwerk umspült werden. Dieser Cocktail aus Folk, Jazz und Indie-Pop fängt die Schönheit des Moments ein und fordert die Hörerinnen und Hörer auf, sich ganz im Jetzt zu verlieren. Sebastians helle, zaghafte Stimme fügt sich dabei perfekt in die Nummern ein, die bei "Du darfst lieben" und dem zum Dahinschmelzen wunderschönen "Wie Du gibst" einmalig funkelnde Melodien bereithalten. Da arbeitet man Jahre lang mit einem der vielleicht besten deutschen Liedermacher zusammen - und man wusste bis vor kurzem noch nichts davon. Da ist Nacharbeit in der Redaktion angesagt.

Mårten Lärka indes hat sich 2020 direkt an uns gewendet und ebenfalls für einen Überraschungsmoment gesorgt. Der Schwede hat auf seinem Album "Alléz, Alléz" auf Französisch gesungen - was nicht unbedingt naheliegt. Doch Mårten ist ein sprachlich versierter Musiker und hat vor zwei Jahren mit "Diktator Neudachnik" sogar ein Stück auf Russisch veröffentlicht. Für "Två dagar om året - Mårten Lärka spelar Stig Dagerman" hat er sich wieder seiner Muttersprache bedient - was bei dieser Veröffentlichung absolut Sinn macht. Denn der Titel deutet es an: Der Musiker gedenkt auf diesem Album dem schwedischen Schriftsteller und Journalisten Stig Dagerman, der hierzulande nur leidlich bekannt ist. Empfehlenswert ist sein Buch "Deutscher Herbst", in dem Dagerman in Reportagen eindringlich das vom Krieg zerstörte Deutschland, das er im Herbst 1946 für die schwedische Tageszeitung "Expressen" bereiste, beschreibt. Der von Depressionen geplagte Dagerman nahm sich 1954, im Alter von 31 Jahren, das Leben. Von dieser tragischen Gestalt ist bei Mårten nicht viel zu hören. Seine Songs bewegen sich in einem garagenhaften 60s-Pop mit dumpfem Schlagwerk, käsigen Orgelsounds und grobschlächtiger Gitarrenbearbeitung. Manchmal wagt der Mann kleine Ausflüge in andere Genre. "Om man vill leva" erweckt das Gefühl von Endsiebziger Wave-Punk wieder zum Leben, bei "Den sista skolan" zieht Mårten einen astreinen Blues vom Leder. Und "Vi flyger över Bremen" beginnt so schummrig wie einst "A Forest" von The Cure, um danach in einen mit Glitter behangenen Rock zu switchen. So viel Spielfreude besitzen nur wenige Alben.

Auch wenn Koblenz recht beschaulich wirkt, besitzt es doch eine sehr lebendige alternative Musikszene. Bands wie Scumbucket oder Blackmail stammen aus dieser Stadt. Johannes Rösgen ist ein weiterer Musiker aus dieser Stadt, bei dem es sich lohnt, ihn genauer unter die Lupe zu nehmen. Seine Band Johnrose überrascht vor allem in seiner musikalischen Ausrichtung. Das aktuelle Album "The Prophet's Dance" verschreibt sich einem üppigen Progressive Rock, bei dem man die Vorliebe für Gruppen wie Pink Floyd, Toto oder auch Manfred Mann's Earth Band deutlich heraushört. Jede Menge 70s Vibes durchziehen dieses Album, das sich aber dennoch in seiner glasklaren Produktion, für die auch final Stefan Noltemeyer herangezogen wurde (er hat bereits für Größen wie Meat Loaf und Earth, Wind & Fire gearbeitet), als Produkt der Gegenwart auszeichnet. Auffällig bei "The Prophet's Dance" ist vor allem, dass die Songs sich in konsumfreundlichen Längen um vier Minuten bewegen, aber deutlich länger klingen. Das liegt nicht daran, dass sich Langeweile in den Kompositionen eingeschlichen hat, sondern im Gegenteil so viel los ist innerhalb der Nummern, das man das alles erst einmal verdauen muss. Damit fordert er natürlich die Hörer, aber er überfordert sie dabei nicht. Besonders persönlich gehaltene Stücke wie "Around The Lake", bei dem Rösgen den frühen Tod seines Vaters verarbeitet, besitzt eine besondere, gleichzeitig hoffnungsvolle und doch melancholische Atmosphäre. Die Stärken des Albums sind zweifelsohne in den großartigen Melodien ausfindig zu machen, die wie in "Hurts" oder "Lover Are Strangers" uns daran erinnern, das auch bombastischer Rocksound, wenn er gut gemacht ist, immer noch begeistern kann.

Härter kann der stilistische Bruch nicht sein. Vom wohlklingenden, melodischen Rock von Johnrose landen wir in den anarchischen Klangkosmos von den Komplizen der Spielregeln, die den Begriff Independent komplett ausleuchten, indem alles, was der musikalische Fuhrparkzu bieten hat, auch gnadenlos genutzt wird. Darüber singt Tobias Ortmanns seine oftmals kryptisch-avantgardistischen Texte. "Workout" traut sich im Vergleich zum selbstbetitelten Vorgänger allerdings noch mehr, dem allgemeinen Massengeschmack gepflegt in den Allerwertesten zu treten. So beginnt die Platte mit "Kaviar" muskulös-elektronisch dank einer schnieken Basslinie. Das Kontrastprogramm liefert "Ein Klassiker", der sich am Indie-Rock der Sterne und ähnlichen deutschsprachigen Gitarrencombos orientiert. Dass es gerade diese beiden Songs sind, die Komplizen der Spielregeln vorab veröffentlichten, leuchtet ein, repräsentieren sie doch das breite musikalische Verständnis des Dreiergespanns aus Köln, das zu Beginn ihrer Karriere sich noch viel stärker der handgemachten Musik zuwandte. Der mittlerweile kultivierte Stilmix macht "Workout" zu einer musikalischen Wundertüte. Über allem steht aber die grundlegende Frage: "Was will uns der Künstler damit sagen?" Die Antwort fiel selten so schwer. Die Komplizen der Spielregeln verweigern sich einer klaren Deutung; manchmal hat es sogar den Anschein, als suche man sich die Wörter nur nach dem Klang aus, damit sie am besten in das tonale Komzept passen. Am Ende darf der geneigte Hörer selber entscheiden, was er aus Stücken wie "Pixelpark" oder "Schub in meinem Whitecube" heraushört.

Auf dem ungefähr gleichen dadaistischen Level wie die Komplizen der Spielregeln befinden sich auch Baumarkt aus Chemnitz, vormals Karl-Marx-Stadt. Der Connaisseur weiß: In dieser Stadt war subkulturell schon immer was los, sogar als noch die Mauer stand. AG Geige anyone? Mittlerweile sind Bands wie Kraftklub das Indie-Aushängeschild dieser Stadt. Aber Baumarkt, die 2016 von Jenny Kretzschmer alias Jens Ausderwäsche und Florian Illing ins Leben gerufen wurde, haben verdammt gute Argumente, als nächster heißer Scheiß die Runde zu machen. Jedoch nur bei jenen, die Indie nicht nur als hippen Lifestyle verstehen und im Grunde doch nur dem Mainstream frönen. Das Duo klatscht solche Menschen mit ihrer Musik locker um. Ihre Stärke ist der Nonkonformismus auf allen Ebenen ihrer Kunst. Musikalisch bewegt man sich irgendwo zwischen NDW, Post-Punk und kaputter Lo-Fi-Elektronik, was wohl der mindestens genauso sprunghaften Lyrik geschuldet ist. Ein paar kleine Auszüge: "Dein Selbstwertgefühl steht im Schlüpfer am Herd" ("Passanten"), "Vorhin hatte ich noch ein Guacamolebrot, doch jetzt hast du mich gefriendzonet" ("Guacamolebrot") und dergleichen mehr. Der Spaß am Rhythmus der Wörter in "Wald Welt Wiesenfeld" oder die ungeahnten Möglichkeiten der deutschen Sprache, die sich im Titel "Konfußgänger" manifestieren, beweisen, dass wir es hier mit blitzgescheiten Kunstschaffenden zu tun haben, die "konsequent am Fokus der Majorlabels" vorbeikomponieren, wie es ihre Plattenfirma Latenz nicht ohne Stolz schreibt. Diese kommt übrigens aus Bremen. Baumarkt sind für Chemnitz dann wohl doch zu crazy.

Gäbe es sie noch, die gut sortierten Plattenläden, der Autor dieser Zeilen wäre sicherlich am Cover von Japan Reviews "The Slow Down" hängen bleiben und hätte die Scheibe probehören wollen. Sicherlich: Beurteile niemals ein Buch nach seinem Einband - und eine Platte nach seinem Artwork. In diesem Fall aber schon. Obwohl das schießfreudige Pärchen auf dem Rummel so gar nicht zum Sound des aus Glasgow stammenden Projektes passt. "The Slow Down" darf man tatsächlich für bare Münze nehmen: Hier geht es überwiegend entspannt zu, selbst das fordernde "Go Around" zeigt sich bei allem Tempo sehr anschmiegsam. Japan Review haben es sich zwischen Shoegaze und Dream-Pop sehr gemütlich gemacht, zitieren hie und da natürlich die großen Größen wie My Bloody Valentine oder The Notwist, sind aber über Albumlänge vollkommen eigenständig. Dabei durchschneiden Drummachines die milchigen Soundscapes aus in Hall gepackten Gitarren und spröden Synthesizer. Obschon der Charakter von "The Slow Down" ein offenkundig experimenteller und freigeistiger ist, kreieren Japan Review auch einige poppige Momente. So wandelt sich der amorphe Sound von "Connie Gustafson" im Laufe der Komposition in wohlfeile Akkordfolgen, die sich mit angenehmem Gesang und flächiger Elektronik ohne Umwege in die Gehörgänge einnisten. Das nachfolgenden "Portable" tut es "Connie Gustafson" gleich; selbst der leicht angezerrte Gesang kann den Pop-Appeal dieser Nummer nicht verhindern -  und das ist auch gut so. Das auf Blackjack Illuminist veröffentlichte Album gehört zu den kleinen Juwelen des vergangenen Jahres.


||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 09.01.24
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                               © ||  UNTER.TON |  MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR | IM NETZ SEIT 02/04/2014

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