MATT HOWDEN: "ICH BIN ES NICHT GEWOHNT, MEINE SEELE LIVE VOR ANDEREN MENSCHEN OFFENZULEGEN" - UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR

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MATT HOWDEN: "ICH BIN ES NICHT GEWOHNT, MEINE SEELE LIVE VOR ANDEREN MENSCHEN OFFENZULEGEN"

Im Gespräch

Hallo Matt! Glückwunsch erst einmal zu Deinem aktuellen Album "Radiate -Power-Words" – ein wirklich beeindruckendes Stück zeitgenössischer Musik. Wann kam es zur Idee, das Seitenprojekt RASP ins Leben zu rufen?

Erst einmal vielen Dank!
Ich bin wirklich stolz auf das, was Jo Quail und ich mit RASP geschaffen haben. Die Idee dazu ist relativ spontan entstanden, als ich Jo bei einem Konzert in meiner Heimatstadt Sheffield getroffen habe, wo wir beide gemeinsam aufgetreten sind. Bald stand die Idee im Raum, gemeinsam ein Projekt zu starten. Da wir beide aber schon genug mit unseren eigenen Sachen beschäftigt waren, schlug ich vor, dass das Album eben einfach innerhalb von zwei Tagen erdacht und eingespielt werden sollte.

Jo bist Du aber schon wesentlich früher begegnet...


Das stimmt. Wir sind uns sogar innerhalb von zwei Wochen zwei Mal über den Weg gelaufen. Einmal bei einem kleineren Konzert in Birmingham, und danach in Leipzig, genauer gesagt im Centraltheater, wo wir beim Wave-Gotik-Treffen unsere Solo-Shows absolvierten. Seitdem liebe ich die Art und Weise, wie sie Musik macht!

Wie würdest Du Jo beschreiben?


Als eine äußerst liebevolle Person und Musikerin; aufrichtig in ihrer Kunst und immer daran interessiert, ihren künstlerischen Ausdruck zu erweitern. Sie ist offen gegenüber neuen Ideen und probiert vieles aus. Bei uns stimmt die Chemie einfach. Als wir die Stücke für RASP einspielten, bemerkte ich oft, dass sie genau die gleichen, seltsamen Noten spielte, die ich zuvor gerade erst in meinen Gedanken hatte.

Obwohl das Album innerhalb von zwei Tagen aufgenommen wurde, gab es doch bestimmt eine gewisse Vorlaufzeit, oder?


Nein, nicht wirklich. Jo und ich haben im Grunde nur einige Loops und ein paar Stichpunkte für die Texte vorbereitet. Alles andere entstand dann innerhalb der vorgegebenen Zeit. Zuerst gab es eine Live-Session, bei der wir das Album in grobe Zügen erarbeitet und zehn Songskizzen fertiggestellt haben. Das Publikum war immer dabei; nicht nur vor Ort, sondern auch via Internet. Am selben Abend spielten wir das neue Material erstmals, nachdem zuvor zwei Solo-Shows absolviert wurden. Schon am nächsten Tag haben wird das Album dann an einem wundervollen Ort, dem Club 60 Recording Studios in Sheffield, aufgenommen – erneut vor geladenen Gästen.

Welche Erfahrungen hast Du aus diesem ungewöhnlichen Projekt für Dich mitgenommen?

Von Anfang bis Ende ging alles rasend schnell vorüber. Am ungewöhnlichsten war es für mich, das Album direkt vor einem Publikum entstehen zu lassen. Ich bin es nicht gewohnt, meine Seele vor anderen Menschen "offen zu legen". Wenn ich Songs schreibe, geschieht das immer an einem einsamen Ort, fernab jeglicher Zivilisation. Auch wenn wir die ganze Zeit über in unserem Entstehungsprozess vertieft waren, gelang es uns doch, den Zuschauern zu erklären, was wir da eigentlich gerade machen. Beispielsweise haben wir mehrmals hintereinander ein und denselben Song gespielt – oder Teile daraus. Dem Publikum hat es aber anscheinend gefallen, hautnah bei den Musikern und ihrer Arbeit dabei zu sein.

Wie war es für Dich, an zwei verschiedenen Orten aufzunehmen? Schließlich unterscheidet sich die Atmosphäre des Theaters, wo ihr das Album erdacht habt, völlig von dem Kellergewölbe des Club60-Studios...


In der Tat! Letzten Endes sind wir beide aber erfahrene Performer. Obwohl wir sozusagen nur ein "leeres Blatt Papier" vor uns hatten – na ja, zumindest haben wir noch am Abend hastig einige Noten niedergeschrieben – waren wir ziemlich entspannt und haben einfach das Ergebnis genossen, das sich aus diesem Vorhaben ergab. Ich denke, dass wir beide sehr intuitiv musizieren, sodass wir den Abend nach unserem Willen steuern konnten. Wir hatten wirklich unsere Freude daran und genossen diese Reise mit all ihren unerwarteten Wendungen.

Einige Stücke wie "Psychic Experience" oder "Rain Falls" beinhalten Samples mit gesprochenen Texten. Woher stammten diese Textfragmente?


Die wurden natürlich vorbereitet. Eine Sequenz stammt zum Beispiel von einem Freund aus Deutschland, der mir Aufnahmen zuschickte, mit denen er seine psychischen Erfahrungen festgehalten hat. Ein anderes Fragment kam von einem DJ aus Trinidad. Ein sehr liebenswürdiger Mensch mit einer einschmeichelnden Stimme! Eher spontan bin ich auf die Idee gekommen, dass diese beiden Aufnahmen gut in die "Stimmung" des RASP-Albums passen würden. Jo und mir hat es Spaß gemacht, die Loops an den gesprochenen Text, den ich via iPad laufen ließ, anzupassen.

Das Album entstand also komplett vor den Augen und Ohren eines Publikums. Wie reagierten sie und was haben sie gesagt, nachdem dieses "Experiment" vorüber war?


Das lustigste Moment entstand nach dem ersten Song: Wir hörten auf zu spielen. Plötzlich sahen sich die Menschen um, weil sie ja wussten, dass eine Aufnahme stattfindet. Sie waren unsicher, ob sie überhaupt klatschen sollten, beziehungsweise durften. Die daraus resultierende, wenige Sekunden anhaltende, gespannte Stille war einfach wunderschön! Und dann entluden sich die Gefühle schließlich im Applaus – herrlich! Außerdem nahmen wir das Album auf alten Analog-Bändern auf. Wir wussten, dass sie ungefähr eine halbe Stunde festhalten konnten, hatten also zwei Mal dreißig Minuten Zeit. Unser Entschluss war aber, das Set nicht zeitlich anzupassen, sondern es dem Zufall zu überlassen und zu sehen, wann das Band – und damit auch die Aufnahme – tatsächlich zu Ende sein sollte. Glücklicherweise stoppte das Band, just nachdem ich die Strophe "Radiate Power Words" gesungen hatte. Manche Zuschauer beobachteten lieber, wie das Aufnahmegerät seine Arbeit machte, als auf die Bühne zu schauen, was ich ebenso großartig fand. Am Ende des Konzerts fragten sie uns, wie viele Wochen wir uns denn darauf vorbereitet hätten, oder was wir bereits für dieses Album zuvor geschrieben hätten – und waren dementsprechend erstaunt, dass nur einige grundlegende Loops, ein wenig Text und Sprachsamples als Basis für diesen Abend dienten! Einige haben sogar den gesamten Prozess verfolgt und uns erzählt, wie sehr sie diese Erfahrung begeistert hat.

Was hat Dir mehr Freude bereitet: die Stücke zu schreiben, oder das Album aufzunehmen?


Eindeutig die Aufnahmen! Songs zu schreiben, ist etwas sehr privates und geschieht üblicherweise im Verborgenen. So gehe ich sonst generell vor. Schreiben ist einfach schmerzhafter! Und um ein Stück aufzunehmen, muss man anders drauf sein. Obwohl ich manchmal auch beides zur gleichen Zeit mache: Songs schreiben, sie währenddessen bereits aufnehmen und das Ergebnis bearbeiten...

Wie wichtig waren Dir die Zuschauer an diesem Abend, die Dich ja auch mit "Live-Energie" versorgen mussten?


Sie waren wirklich lebendig – und großartig! Die Zuschauer wussten, dass sie etwas sehen und erleben würden, was es in dieser Form bei mir noch nicht gegeben hat. Meine Studenten – ich lehre Musiktechnologie an einem örtlichen College – unterstützten uns tatkräftig: Als Techniker, Türsteher, Merchandising-Verkäufer oder auch durch Öffentlichkeitsarbeit. Sie brachten ebenfalls viel Enthusiasmus und positive Schwingungen mit! Viele von denen waren erst 16 oder 17 Jahre alt und total begeistert, Teil dieser "Underground"-Aktion sein zu dürfen. Diese flirrende Spannung, die die ganze Nacht über von ihnen ausging, war einzigartig.

"Radiate Power Words" markiert eigentlich nur einen kurzer Augenblick der Entstehung, ist also klassisches "Work-in-Progress". Bereitet das Dir als Künstler nicht auch Kopfzerbrechen? Schließlich möchte man doch auch ein "perfektes" Album abliefern...


Natürlich, aber ich habe es "überstanden", mich an etwas mit aller Macht zu klammern. Mittlerweile zähle ich schon einige Lenze und habe dementsprechend viele Alben aufgenommen. Je älter ich werde, desto mehr sehe ich meine Platten als "Momentaufnahmen" an. Ich bin natürlich stets darauf bedacht, mich weiterzuentwickeln. Aber mir ist darüber hinaus auch bewusst, dass es nicht allein auf die Noten und die Art und Weise, wie du sie spielst, ankommt, sondern auf die gesamte Stimmung und die Schwingungen zwischen Dir, dem Ort und den anderen Musikern. Intensiver kön
nte dieses Gefühl nicht ausgelebt werden, als in diesen zwei Tagen mit Jo!

Bleibt RASP also ein einmaliges Unterfangen, oder werden wir von Dir und Jo in Zukunft wieder etwas hören?


Das werden wir sehen! Wenn die Zeit reif ist, werden wir es wieder machen, und das nächste Konzert bedeutet dann auch ein neues Album. Vielleicht wird es in einem anderen Land stattfinden – in Verbindung mit einer Organisation oder einer Schule. Wir könnten speziell für diesen Ort Musik schreiben, oder Stücke aus dem aktuellen Repertoire dort völlig neu interpretieren. Es wäre bestimmt interessant, herauszufinden, wie sie sich verändern und entwickeln. Oder wie sie völlig auf den Kopf gestellt werden, um sich an diese neue Umgebung und an ein anderes Publikum anzupassen. Vielleicht wird RASP auch in anderer Form weitergeführt werden. Das überlasse ich dem Schicksal! Ich weiß nur, dass es keine "Band" sein wird, die mit diesem oder jenem Line-Up auftritt. Das machen wir beide sowieso schon mit unseren eigenen Projekten...

||INTERVIEW: DANIEL DRESSLER | DATUM: 12.01.15 |  KONTAKT |  WEITER: CD-Kritik RASP "RADIATE-POWER-WORDS" >


Mehr zu Matt Howden auf UNTER.TON
Doppel-Kritik: "No Less Than All" und "Each Divine Spark"


Websites
www.matthowden.com
www.joquail.co.uk


COVER © REDROOM RECORDS; © FOTOGRAFIE CHRIS SAUNDERS.

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