NUOVO TESTAMENTO "LOVE LINES" VS. ASSASSUN "CHRONIC QUICKSAND DEPRESSION MORNING": VON STRAIGHT ZU STRANGE
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Die ersten Takte von "Wildlife", dem Eröffnungsstück von Nuovo Testamentos neuestem Werk "Love Lines" reichen aus, um in die Zeit legendärer Langnese-Eiskremwerbeclips in den Kinos, geisteskranker Schulterpolster und bestulpten Fitnessgurus im "Telegym" abzutauchen. Oder um es anders auszudrücken: "Love Lines" ist "so eighties" wie es die 80er selbst nicht einmal waren.
Diese Entwicklung war in 2019, als das amerikanisch-italienische Projekt erstmals aufgetaucht ist, noch gar nicht abzusehen. Die Mitglieder steckten vor Nuovo Testamento hauptsächlich in der schweren Rockecke, ehe sie sich mit ihrem ersten Mini-Album "Exposure" über einen schummrigen Cold Wave den Weg zur elektronischen Musik erarbeitet haben. Zwei Jahre später erschien "New Earth" - und alle Tristesse zerstob, als hätte man in Mehl geblasen. Fortan wandelte man auf der Retro-Italo-Disco-Welle, der man vor kurzem sogar in Arte eine Dokumentation widmete und damit die stets als seicht verschriene Stilrichtung hochkulturell veredelte.
Wiederkehrend jener Spruch, der immer noch Bestand hat: "Lieber gut geklaut, als schlecht selber gemacht." Wer, wenn nicht Nuovo Testamento, darf dieses Prädikat mit Stolz ans Revers heften? Denn "Love Lines" ruft die alten Geister herbei: Der Beat erinnert an die frühen Pet Shop Boys, die mitreißenden Melodien an Freeez ("I.O.U.") und Sängerin Chelsey Crowley hat sich den straight gehaltenen Ton bewahrt. Denn im Gegensatz zu vielen Chanteusen, die in irgendwelchen Casting-Sendungen dadurch auffallen, Songs niederzuschreien, noch mehr Vibrato oder die nächste performative Girlande in den Gesang zu packen, sind Chelseys unschuldig geradeaus gesungene Noten eine wahre Wohltat.
Ein anderes Organ geht auch gar nicht mit diesem Sound konform, der bei aller Melodieverliebtheit ebenfalls sehr aufgeräumt wirkt. Nuovo Testamento ist das perfect match aus Stimme und Musik. Vielleicht gibt sich das Trio deswegen so selbstbewusst und kredenzt dem Hörer Songs, die sich in ihren Arrangements kaum unterscheiden, ja, sogar in den Refrains die selben Muster aufweisen (man höre sich einfach "Heat" und "Heaven" direkt hinterienander an).
"Love Lines" strotz nur so von einem gesunden Selbstverständnis, weil die Band ganz genau weiß, dass sie ein Album voll von ohrwurmigen Stücken geschaffen hat. Ohne sich auch nur einen Momente Gedanken darüber zu machen, den Nummern einen Bezug zur Gegenwart zu verpassen, knallen sie uns acht Floorsmasher hin, die alle für sich genommen als Single taugen. Würde man es nicht wissen, Nuovo Testamento könnte als verschollenes Italo-Disco-Projekt durchgehen, derart perfektioniert ist ihr auditives Mimikry.
Vielleicht ist es dem Dreiergespann aber wichtig - und dann ist da doch ein Bezug zur Gegenwart - eine Unbeschwertheit zurückzubringen. Und zwar nicht nur in die Popmusik, sondern auch in das Leben der Hörer. "Love Lines" ist auf jedenfall bester Hubba-Bubba-Synthie-Pop, so fröhlich wie die sommerlichen Nachmittage im Freibad, wenn die Schule vorbei war.
Von diesem Wohlklang ist Assassun meilenweit entfernt. Allein der pathologisch klingende Titel "Chronic Quicksand Depression Morning" verweist nicht gerade auf ein leichtfüßiges Sein hin. Die ersten Ahnungen sollten sich bewahrheiten: Das Projekt hat auf seinem zweiten Longplayer, das zielich genau ein Jahr nach dem Erstling "Sunset Skull" herausgekommen ist, die dystopisch-surrealen Klänge aus den elektronischen Instrumenten weiter in die Extreme getrieben.
Wenngleich wie bei "Fear Doubled" die Sequenzen sich vergleichsweise handzahm geben oder "The Ivories And I" mit sanftem Geplucker vordergründig keiner Fliege etwas Zuleide tun kann, kommt zu keiner Zeit das Gefühl eines Lichtblicks auf. Allein die Texte, die regelrecht in den Äther reingeschleudert werden, sind von einer latenten Aggression durchzogen, die vermuten lassen, dass Alexander Leonart Donat, der kreative Kopf hinter Assassun, wohl nicht der größte Menschenfreund ist.
Wer mit dem umtriebigen Musiker (vor allem durch sein weiteres Projekt Vlimmer bekannt, das eher dem Cold Wave zuzuschreiben ist) und Labelbetreiber aber schon einmal einige Worte, sei es real oder virtuell, wechseln konnte, weiß um seine zutiefst humanistischen Ansichten und seinen Humor. Vielleicht wirkt der Privatmensch Donat deswegen so ausgeglichen, weil er seine Gedanken, Ängste und auch seine Wut in die Musik packt. Zumindest ist "Chronic Quicksand Depression Morning" eine Auseinandersetzung mit den täglichen Aufeinandertreffen mit anderen Menschen.
In Donats alertem, getriebenem Duktus und den teilweise in den Zwischentönen wabernden Soundscapes (wunderbar: "Shapeshifters") kulminiert die erschöpfte Psyche dieser Dekade, in der Pandemie, Krieg, Klimawandel, Letzte Generation, Extremismus- und Wokeness-Debatten ziemlich alle vertrauten Strukturen weggebrochen haben. In dieser allgemeinen Unsicherheit wirkt Assassuns Zweitling wie ihre Potenz.
Das sonst sonnige Gemüt von Alexander tauscht er für sein Alias in einen beißenden Zynismus ein. Denn "Joie de Vivre", aus dem auch der Albumtitel entnommen wurde, propagiert nicht selbiges, sondern fragt berechtigterweise, wo sie denn ist, die Lebensfreude. In unserem von Wachstum und Konsum getriebenen Alltag eine ernstzunehmende Frage, die man sich stellen muss.
Assassun sucht in extremen, temporeichen Nummern mit unkonventioneller Elektronik, die sich nicht an stilistische Vorgaben binden will, sondern nur flüchtig EBM, DIY-Elektronik und synthetisch basierten Punk streift, um daraus eine ganz eigene musikalische Sprache zu entwickeln, eine klangliche Entsprechung zu unserer aus den Fugen geratenen Welt, in der bisherige Werte nichts mehr gelten. Geräusche für die Zeitenwende - erschreckend und schön zugleich.
Bleibt am Ende nur die Frage, womit man anfängt. Lässt man sich erst von den nostalgischen Italo-Disco-Klängen von Nuovo Testamento berieseln, um dann mit Assassun in die grau(sam)e Realität zurückgeholt zu werden? Oder gönnt man sich doch erst die geballte Ladung Dystopie, die sodann von den lieblichen Harmonien sanft aufgefangen werden? Letzten Endes ist das wumpe. Nur in die Platten reinhören: Das ist erste Bürgerpflicht.
||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 04.04.23 | KONTAKT | WEITER: KURZ ANGESPIELT 7/23>
Webseite:
nuovotestamento.bandcamp.com
blackjackilluministrecords.bandcamp.com
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COVER © Discoteca Italia (Nuovo Testamento),Blackjack Illuminist Records (Assassun)
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© || UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR | IM NETZ SEIT 02/04/2014. ||
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