STADLOBER & TUCHOLSKY: "WENN WIR EINMAL NICHT GRAUSAM SIND, DANN GLAUBEN WIR GLEICH, WIR SEIEN GUT": WIEDERENTDECKUNG DES GROSSEN MAHNERS
Kling & Klang > REVIEWS TONTRÄGER > S > STADLOBER & TUCHOLSKY
Ob es Absicht oder Zufall war, dass der Schauspieler Robert Stadlober das Werk "Wenn wir einmal nicht grausam sind, dann glauben wir gleich, wir seien gut" am 30. August veröffentlicht hat? Es ist jener Freitag vor den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen gewesen; die Wahlprognosen im Vorfeld ließen bereits das Schlimmste befürchten. Und es ist das eingetreten, was viele nicht für möglich gehalten haben: Die Alternative für Deutschland (AfD) hat in Thüringen die meisten Stimmen erhalten. Gerade dieser Landesverband gilt als gesichert rechtsextrem, sein Spitzenmann Björn Höcke darf als Faschist bezeichnet werden.
Auch in Sachsen fahren die Rechtspopulisten hohe Gewinne ein, die CDU liegt als Wahlgewinnernur hachdünn vor ihnen. Die Frage, wer nun eigentlich die Schuld an dieser Misere trägt, ist allerdings müßig und führt zu nichts. Die Angst, dass dieser Wahlsieg noch weitaus größere Konsequenzen zur Folge haben wird (nächstes Jahr steht die Bundestagswahl an), steigt seit vergangenem Sonntag jedoch gewaltig an. In einer ähnlichen Gefühlslage dürfte sich auch Kurt Tucholsky befunden haben. "Deutschland ist ein gespaltenes Land" - das schrieb er 1929 in seiner Veröffentlichung "Deutschland, Deutschland über alles", einer zu gleichen Teilen Abrechnung und Liebeserklärung an seine Heimat, die im Beginn war, einen völkisch-nationalistischen Kurs einzuschlagen. Erschreckend, wie dieser Satz 95 Jahre später wieder aktuell ist.
Dass sich der Schauspieler Robert Stadlober diesem eigenwilligen, aber blitzgescheiten Mann und seinen Poemen widmet, hat auch mit seinem letzten Filmprojekt "Führer und Verführer" zu tun, einem halbdokumentarischen Streifen über die machterhaltende Beziehung zwischen Adolf Hitler und Joseph Goebbels. Stadlober spielt dabei den Reichspropagandaminister, der auf Geheiß des Führers das Volk mit seinen hetzerischen Reden einschwor.
All das hat Tucholsky in seinen Werken bereits im Voraus geahnt und nimmt das deutsche Volk in die Pflicht. Ein Gedicht wie "An das Publikum" zeigt, dass sich nichts geändert hat. "Es lastet auf dieser Zeit der Fluch der Mittelmäßigkeit", konstatierte er anno 1931. Man kann es eins zu eins auf die Gegenwart übertragen. Ebenso auch "Der Pfau", ein Spottlied auf die Oberflächlichkeit der Menschen, denen Aussehen wichtiger als Intellekt zu sein scheint. Was hätte der Meister der spitzen Feder in Zeiten von Instagram und TikTok wohl geschrieben?
Erwartbar wäre es gewesen, wenn Robert Stadlober sich an den Sound der Weimarer Republik rangewanzt hätte. Dann hätte er im Stile von Max Raabe ein großes Orchester auffahren können. Aber damit hätte er Tucholsky auch in seiner Zeit belassen. Stattdessen packt der Deutsch-Österreicher die gesellschaftskritischen Lyrics in einen reduzierten und transparenten wie zeitgemäßen Indie Folk, während Roberts leicht nölige Stimme den Geist des Punks zeitweise andeutet (auch damit hat er bereits in seiner frühen Karriere Erfahrung - das hübsch fotografierte "Verschwende Deine Jugend" von 2003 zeigte den Mann als Deutsch-Punker während der prosperierenden NDW-Zeit).
"Wenn wir einmal nicht..." erhält dadurch eine große Lebendigkeit und auch eine unterschwellige Mahnung. Denn die Platte kommt klanglich geradezu lieb daher: entspannte Akustikgitarre, leichtes Rhythmusgeplucker und hie und da ein paar Streicher sind der Zuckerüberzug einer bitteren Pille, die wir hier zu schlucken haben. Denn rund 90 Jahre später sind wir wieder da angekommen, wo Tucholsky bereits schon war. Deswegen sind Stadlobers Interpretationen des großen Mahners, des schlechten Gewissen Deutschlands, Pflichtprogramm und Gebot der Stunde. Wehret den Anfängen!
Kurze Info in eigener Sache
Alle Texte werden Dir kostenfrei in einer leserfreundlichen Umgebung ohne blinkende Banner, alles blockierende Werbe-Popups oder gar unseriöse Speicherung Deiner persönlichen Daten zur Verfügung gestellt.
Wenn Dir unsere Arbeit gefällt und Du etwas für dieses kurzweilige Lesevergnügen zurückgeben möchtest, kannst Du Folgendes tun:
Druck' diesen Artikel aus, reich' ihn weiter - oder verbreite den Link zum Text ganz modern über das weltweite Netz.
Alleine können wir wenig verändern; gemeinsam jedoch sehr viel.
Wir bedanken uns für jede Unterstützung!
Unabhängige Medien sind nicht nur denkbar, sondern auch möglich.
Deine UNTER-TON Redaktion
Alle Texte werden Dir kostenfrei in einer leserfreundlichen Umgebung ohne blinkende Banner, alles blockierende Werbe-Popups oder gar unseriöse Speicherung Deiner persönlichen Daten zur Verfügung gestellt.
Wenn Dir unsere Arbeit gefällt und Du etwas für dieses kurzweilige Lesevergnügen zurückgeben möchtest, kannst Du Folgendes tun:
Druck' diesen Artikel aus, reich' ihn weiter - oder verbreite den Link zum Text ganz modern über das weltweite Netz.
Alleine können wir wenig verändern; gemeinsam jedoch sehr viel.
Wir bedanken uns für jede Unterstützung!
Unabhängige Medien sind nicht nur denkbar, sondern auch möglich.
Deine UNTER-TON Redaktion
COVER © STAATSAKT
ANDERE ARTIKEL AUF UNTER.TON
Rechtlicher Hinweis: UNTER.TON setzt auf eine klare Schwarz-Weiß-Ästhetik. Deshalb wurden farbige Original-Bilder unserem Layout für diesen Artikel angepasst. Sämtliche Bildausschnitte, Rahmen und Montagen stammen aus eigener Hand und folgen dem grafischem Gesamtkonzept unseres Magazins.
© || UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR | IM NETZ SEIT 02/04/2014. ||