THE SEA AT MIDNIGHT "THE SEA AT MIDNIGHT" VS. THE WAKE "PERFUME AND FRIPPERIES" VS. NERO KANE "TALES OF FAITH AND LUNACY": BITTE RECHT TRAURIG - UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR

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THE SEA AT MIDNIGHT "THE SEA AT MIDNIGHT" VS. THE WAKE "PERFUME AND FRIPPERIES" VS. NERO KANE "TALES OF FAITH AND LUNACY": BITTE RECHT TRAURIG

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Manchmal braucht es nur ein paar Takte Musik, um den Künstler oder die Künstlerin dahinter zu verstehen.

So geschehen bei "Medicine", dem ersten Song des Projektes The Sea At Midnight. Ohne die Vita von Vince Grant, der dieses Ein-Mann-Post-Punk-Ereignis auf die Beine gestellt hat, zu kennen, geht vn seinem dringlichen gesang so etwas wie eine tiefe Trauer, aber auch Wut und Verzweiflung. Dieser Mann, so möchte man meinen, singt über und um sein Leben. Und damit liegt man gar nicht so falsch.

Grants Lebensweg ist alles andere als geradlinig. Der Sänger wirkte sein ganzes Leben bislang rastlos, wirkte bei verschiedenen Bands mit und hielt sich mit diversen Jobs über Wasser. Doch seine eigentlichen Dämonen sind Drogen und Depressionen. Letztere versucht er schon Zeit seines Lebens in den Griff zu bekommen.

Dieses Gefühl seelischer Schieflage findet sich eben in "Medicine" wieder. Was aber nicht bedeutet, dass dieses Debüt eine reine Selbsttherapie ist. Vielmehr bedeutet es das Glück der Hörerschaft, dass Grants unstetes Leben ihn zu Songs inspiriert hat, die zwar eine tief empfundene Melancholie offenlegen, aber gleichzeitig auch einen Hoffnungsschimmer in sich bergen. Gerade "Melancholia" und "Edge Of The World" erinnern in seiner Strahlkraft an "Hero" von David Bowie, während Grants Gesang die feinen Nuancen von Bryan Ferry besitzt.

Unschwer zu erkennen, dass The Sea At Midnight sein Debüt sehr an klassische Post-Punk-Helden wie The Cure und vor allem The Psychedelic Furs anlehnt. Dabei achtet Vince exakt auf einen nachvollziehbaren Sound, der bei "We Share The Same Stars" so unangestrengt und doch voller durchdachter Momente ist. Der deutliche Einsatz elektronischer Klangerzeuger spielt dabei keine unwesentliche Rolle, liefern die sterilen Klänge die nötige Distanz zu den Idolen und lassen The Sea At Midnight zu einem eigenständigen Projekt avancieren, von dem es hoffentlich in Zukunft noch mehr zu hören geben wird.

Von den Novizen nun zu alten Hasen mit Verwechslungspotenzial. Denn The Wake existiert gleich zwei mal. Einmal als britische Version, die aus dem Zusammenschluss der namhaften Männer Gerard "Caesar" McInulty (von Altered Image) und zeitweise auch Bobby Gillespie (Primal Scream, The Jesus And Mary Chain) besteht. Die sind aber nicht gemeint.

Sondern The Wake aus Columbus, Ohio, die 1986  ins Leben gerufen worden sind und zumindest in ihrem Heimatland nicht unerfolgreich auf der zweiten Gothic-Welle surften. Trotz ihrer mehr als 30 Jahre im Musikbusiness ist das aktuelle Album "Perfumes And Fripperies" erst ihr viertes. Seit ihrem letzten Album "Nine Ways" - das war 1996 - gab es bis auf einige Beiträge für Kompendien keinen richtigen Longplayer mehr.

Allerdings scheinen die mehr als zweieinhalb Dekaden spurlos an ihnen vorbeigegangen zu sein. Das Album jedenfalls beschwört alte Goth-Rock-Tugenden wieder auf: Nebulöse Gitarrenakkorde von Richard Witherspoon, ein leicht manischer Gesang von Troy Payne und Daniel Cs organisches und treibendes Schlagwerk bilden die Hauptzutaten für den Wake-Sound, der zu keiner Zeit einen Hehl daraus macht, Gruppen wie The Sisters Of Mercy, The Mission oder The Fields Of Nephilim zum Vorbild zu haben.

Wie immer gilt auch hier der Spruch: Besser gut nach-, als schlecht selbstgemacht. In dieser Beziehung lassen sich The Wake auch nicht auf irgendwelche Spielchen ein, sondern greifen tief in die Gruft und bieten einen Rock, den die Alternative Press als "Goth as Fuck" ziemlich treffend beschrieben haben. Hier ist Schwarz nicht nur eine Farbe, sondern eine Lebenseinstellung.

Und doch finden sich auf "Perfumes And Fripperies" einige dezente aktuelle Einflüsse. Man höre einfach "Hammer Hall" an: Wäre Troys Stimme etwas ätherischer (oder auch esoterischer), könnte man sie in die Nähe von The Beauty Of Gemina verorten. Letztendlich sind die Fragen nach Vergleichen und musikalischen Vorbildern müßig, wenn die Stücke die Möglichkeit bieten, als Hörer in sie ganz einzutauchen. Besonders gut gelingt das im Titelsong, dessen stringenter Beat und dahinfließenden Gitarrenriffs die Konzentration beim Empfänger wecken.

Für die Goth-Feinschmecker dürfte "Everything" eine besonderes Moment sein, weil da David "Wolfie" Wolfenden von Red Lorry Yellow Lorry mitwirkt, ebenfalls einer der markanten Gothic-Gruppen und vom Frontmann ebenfalls favorisiert. Der Song ist Troys Vermächtnis an sein Vater, der 2007 verschied, und gleichzeitig Sinnbild für den natürlich melancholischen Duktus dieser Platte, die besonders jene abholen wird, die sich seit den späten 90ern nicht mehr in die Diskotheken ob der Überhand nehmenden elektronischen Musik getraut haben.

Doch sind nicht gerade Herbst und Winter jene Jahreszeiten, in denen sich der Lebensrhythmus etwas verlangsamt, unabhängig von der aktuell grassierenden Pandemie? Wenn die Blätter, in goldenen Farben leuchtend, von den Bäumen fallen und der Schnee die kahlen Äste bedeckt, gemahnt uns die Natur der Vergänglichkeit, was für viele Menschen auch die Zeit der inneren Einkehr bedeutet.

Manche könnten bei ihren Reflexionen über das Leben und den Beobachtungen zu unserer aktuellen Gesellschaft auch zu einem spirituell ernüchternden Urteil kommen: "Lord Won't Come" - der Herrgott hat sich aus dem Staub gemacht und lässt uns allein. Mit diesen resignierenden Worten eröffnet Nero Kane aus Italien ihren zweiten Longplayer mit dem ikonischen wie ironischen Titel "Tales Of Faith And Lunacy". Denn der "Glaube" wird gleich im ersten Song hart auf die Probe gestellt, und der "Wahnsinn" auf der anderer Seite findet sich nicht so schnell - musikalisch jedenfalls ist man weit von einem durchgedrehten Sound entfernt.

Marco Mezzadri, der kreative Kopf hinter Nero Kane, sucht sein Heil in einem sparsam arrangierten dunklen und psychedelisch angehauchten Folk-Sound, der in seiner meditativen Redundanz und cineastischer Kontemplation nah an Mazzy Star heranreicht oder sich in "Magdalene" Anklänge an die extrem flächigen Balladen von Madrugada finden - allen voran ihr Song "Sister" ist mit diesem Stück vergleichbar.

Doch wo die Norweger einen rhythmischen Weg einschlagen, bleibt bei Nero Kane alles in der klanglichen Schwebe. Kein knackiges Schlagzeug durchbricht die atmosphärische Saiteninstrumentbearbeitung. Stattdessen überlappen sich Akustik- und E-Gitarren und öffnen den Hades zu den dunkelsten Gedanken, während Samantha ihre Texte wie eine Hohepriesterin vorträgt, in einer vibrierenden Tonlage, die einen auch an Christa Päffgen alias Nico erinnert.

Komplettiert vom schneidend-schönen Geigenspiel von Nicola Manzan, das vor allem "Lost Was The Road" und das abschließende, zehnminütige Magnus Opus "Angelene's Desert" entscheidend und final bereichert, beschwört "Tales Of Faith And Lunacy" eine trübe Stimmung, in der Americana-Einflüsse mit europäischer Mystik ineinander veschmelzen. Zitiert wird übrigens, nicht zuletzt offensichtlich im Stück "Mechthild" selbst, die Nonne und Mystikerin Mechthild von Magedeburg in vielen Momenten. Die Eindringlichkeit dieses Albums macht Nero Kanes Zweitling zu einem transzendierenden Album, das die Schwarzen Seele sanft streichelt.

||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 4.12.20| KONTAKT | WEITER: B.ASHRA "THE SOUND OF DMT">

Webseite:
theseaatmidnight.bandcamp.com
www.thewake.com
www.nerokane.com

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COVER © THE SEA AT MIDNIGHT, BLAYLOX RECORDS (THE WAKE), NASONI RECORDS (NERO KANE)

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