4/21: TAMPLE, MASHA QRELLA, ART NOIR, NICK SCHOFIELD - DIALEKTIK DER DISKOTHEK
Wer tanzt, denkt nicht. Denn der Tanz selbst stiftet Sinn und steht für sich. Das muss aber nicht im Umkehrschluss bedeuten, dass über schnieke Vierviertelbeats nicht doch Ansichten, Geschichten oder philosophische Diskurse transportiert werden können.
Beim französischen Trio Tample wird diese diskursive Haltung bereits durch ihre musikalische Ausrichtung deutlich. Ihre Club-Nummern sind ein wildes Gemisch aus Synthie-Pop, French House mit Funk-Einschlag und Indietronica. Die Promoagentur setzt ihr neues Album "Glory" mit Veröffentlichungen von Hot Chip und Daft Punk gleich. Und damit tut man Frédéric Laclau, Gérald Daragnès und Samuel Rosas Nicolau De Almeida gar nicht mal Unrecht. Bereits ihr erstes Album "Summer Light" (2018) sorgte für Aufmerksamkeit (auch dank massiven Einsatzes des Titelsongs als musikalische Untermalung für einen Werbeclip eines französischen Autoherstellers). "Glory" besitzt einen retrospektiven Charakter: Die drei Musiker blicken auf ihre Jugend zurück und sezieren ihre damalige Gefühlswelt in englischer und französischer Sprache. Und wie das bei einer Rückschau eben ist, stehen Gefühlswallungen, Freiheitsdrang und Rebellion im Vordergrund. Diese verpacken sie in transparente Nummern. Besonders das trocken-funkige Synthiestück "Welcome To Nirvana", das post-punkig angehauchte "Idées blanches", aber auch das gitarrenlastigere "Western" bilden eine perfekte Einheit aus Wort und Tanzaffinität. Den ausgeglichensten Moment jedoch bildet "When The Sun Shines", das mit sprudelnder Elektronik und Lagerfeuerklampfe jenen Moment festhält der Adoleszenz festhält, an dem einem die Welt immer noch offen steht, kurz bevor der Ernst des Lebens immer stärker die Oberhand gewinnt. "Glory" erinnert uns an die Leichtigkeit des junges Seins.
Für die Germanisten unter den Lesern wird Masha Qrella sicherlich eine freudige Offenbarung sein. Denn die Berliner Musikerin hat auf ihrem neuesten Album "Woanders" sich dem lyrischen Oeuvre Thomas Braschs (1945-2001) gewidmet. Jener verließ Mitte der 70er Jahre die DDR und führte ein rastloses Leben, drehte Filme, schrieb Bücher, übersetzte Shakespear-Werke. Nach dem Mauerfall machte er kurz vor seinem Tod noch einmal durch verschiedene Theaterstücke auf sich aufmerksam. Zu diesem Zeitpunkt war Masha Qrella, übrigens in dem Jahr geboren, als Brasch in den Westen rübermachte, eine aufstrebende Musikerin. Als echtes Berliner Mädchen, das auch noch die Teilung erlebt hat, fühlte sie sich von Braschs Poemen angezogen und beschloss, diese zu vertonen - und damit dem Wunsch des Autors postum nachzukommen. Für dieses Unterfangen hat sie prominente Unterstützung. Chris Imler am Schlagzeug und Multiinstrumentalist Andreas Bonkowski sorgen für einen urbanen, leicht melancholischen Indie-Club-Sound, der in "Geister" treibende Arpeggioteppiche klöppelt und im Titelsong tröpfelige Orgeltöne im Stile von Timmy Thomas' "Why Can't We Live Together" in den geschmeidigen Surf-Sound reinspritzt. Braschs Texte zeugen von einer unerfüllten Sehnsucht, der Masha Qrella mit ihrer unaufgeregten Stimme Nachdruck verleiht. Am Ende ist "Woanders" aber noch viel mehr: Es löst rund 20 Jahre später jenes Versprechen ein, das Deutsch-Pop uns in seinen Anfängen gegeben hat, aber im Laufe immer seichterer Schlagermucke nicht mehr einhalten konnte.
Tanzbarkeit steht zwar bei Art Noir nicht unbedingt ganz oben auf der Agenda, aber "Poems Of An Extinct Species" lebt von einer unglaublichen Dringlichkeit, die sich bereits im Eröffnungsstück "Gloomy Sunday" manifestiert. Tatsächlich handelt es sich hier um das Projekt des Musikers Jan Weber, der bereits seit einigen Dekaden als Musiker unterwegs ist. 2015 erhielt er die niederschmetternde Diagnose Amyotrophe Lateralsklerose (ALS), jene Krankheit, die auch Stephan Hawking an den Rollstuhl fesselte. Webers Zustand verschlechterte sich rapide, aber sein Wille, "Poems Of an Extinct Species" zu vollenden, ist größer gewesen. Und fast scheint es so, als versuchen die ätherischen Songs, die sich zwischen mystifiziertem, basslastigen Ambient und klassischer Elektronik-Schule im Geiste eines Jean Michel Jarre oder auch Klaus Schulze ansiedeln, diesen unglaublichen Kraftakt - Weber hat die letzten Arbeiten am Album nur noch mit Hilfe einer computerbasierten Augensteuerung vollführen können - in ihren Arrrangements zu materialisieren. Zusammen mit Nadine Stelzer, die in ihrer stimmlichen Klarheit an die junge Juliane Werding erinnert, gerät "Poems Of an Extinct Species" zu einer gelungenen Meditation über den Mensch der Jetztzeit, der den Fluch und Segen voranschreitender Technologie - vor allem im Hinblick ökologischer Prozesse - noch austarieren muss. Am Ende überzeugt das von Mitgliedern aus dem Dunstkreis von In Strict Confidence gemasterte Album vor allem durch seine majestätischen Melodien, die in "All They Left Behind" und dem wunderschönen "Thorns And Lilies" eine faszinierende Transzendenz besitzen.
Am Ende lädt uns Nick Schofield, ein kanadischer Musiker, auf eine Reise in die bezaubernde Welt der frühen Elektronik ein. Denn sein Werk "Glass Gallery" besitzt jene spirituelle, hermetisch abgeschlossene Schönheit, die man beispielsweise in den Solowerken von Brian Eno wiederfindet. Schofield nutzte dafür den in den Jahre gekommenen und fast vergessenen polyphonen Synthesizer Prophet 600 (übrigens einer der ersten, die über eine MIDI-Schnittstelle verfügte). Mit ihm gelingen asiatisch angehauchte, milchig-pastellige Kleinode, die wie zufällig aufblitzen, um nach zwei, drei, vier Minuten wieder in die Unendlichkeit abzudriften. Dabei inspirierte ihn unter anderem die vergessenen Heldinnen der elektronischen Musik. So bezieht sich "Mirror Image" direkt auf das Klanguniversum der avantgardistischen Musikerin Laurie Spiegel, die in den 70ern und 80ern mit auf Algorithmen basierte Kompositionen experimentierte. Tatsächlich aber, darauf deutet der Titel schon hin, ist das Album von der Nationalgallerie in Ottawa mit seinem surreal anmutenden Glasturm beeinflusst. Und wie sich dort die architektonischen Grenzen zwischen Innen und Außen auflösen, quasi ineinander übergehen, heben Schofields Stücke unter bedächtigen Arpeggios klassische Songstrukturen auf und gleiten von einem Zustand in den nächsten. "Glass Gallery" ist ein in Töne gefasstes "panta rhei" ("alles fließt"). Es beruhigt uns und entwirft gleichermaßen Bilder von wortwörtlich unfassbarer Schönheit, die nicht mehr hinterfragt, sondern einfach nur ist.
||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 12.02.21 | KONTAKT | WEITER: STEINER & MADLAINA "WÜNSCH MIR GLÜCK">
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www.mashaqrella.de
www.artnoir.net
www.nickschofield.com
Covers © Yotanka Productions (Tample), Staatsakt (Masha Qrella), Aenaos Records (Art Noir), Backward Music (Nick Schofield)
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