RICHARD ANDERSON: SPURENSUCHER IN DER ELEKTRO-URSUPPE - UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR

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RICHARD ANDERSON: SPURENSUCHER IN DER ELEKTRO-URSUPPE

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Das britische Label Cherry Red Records ist nicht erst seit gestern für seine geradezu nerdigen Zusammenstellungen berühmt. Ob Psychdelia-Rock, Shoegaze, Indie-Pop, Mod: Ihre Compilations geraten immer zu veritablen Geschichtsstunden, blicken auf die Side-Kicks und vergessenen Helden einer Ära und fördern teils krude, teils erstaunliche, teils außergewöhnliche Verrücktheiten zu Tage, in deren Genuss Otto-Normal-Hörer wohl nie ohne deren Zutun gekommen wäre. Die oftmals in Buchform veröffentlichten Sampler tragen in ihren Booklets jeden noch erdenklichen Schnipsel aus jener Epoche heran, um das vielleicht noch vage Bild einer vergangenen Zeit durch die harten Fakten aus den Katakomben der Geschichte zu vervollständigen.

Mit "Close To The Noise Floor – Formative UK Electronica 1975-1984" kommt am 6. Mai ein weiteres Kompendium auf den Markt, über dessen Genialität nicht wieder der übliche Sermon abgespult werden soll. Nur so viel: Die vier CDs umspannende Zeitreise ist für den gemeinen Verfechter elektronischer Klangerzeugung ein inkommensurables Schatzkästchen, bestehend aus wenig bekannten und viel unbekannten Diamanten, die Richard Anderson, Gestalter dieses Samplers, aufgespürt hat.


Als 1975er Jahrgang erlebte er diese Zeit zwar nicht bewusst mit, seine Liebe und tiefe Verbindung für sie
ist jedoch unzweifelhaft. "Ich habe das Ende des analogen Musikzeitalters in den 90ern hautnah mitbekommen", erklärt er mit deutlicher Resignation. "Meiner Meinung nach war alles, was davor entstand, wesentlich freigeistiger als heutzutage. Ich denke, dass sich das auch in der aktuellen Musik widerspiegelt. Sie ist durchsetzt von den ewig gleichen Synthie-Sounds und den selben Produktionsmethoden, wie der unsäglichen Kompression (eine umstrittene Technik, die leisere Töne an das gesamte Klangbild angleicht, um einen Song "fett" zu machen, Anm. d. Verf.). Musikalisch ist so etwas wenig interessant." Die Hoffnung, irgendwann vielleicht wieder etwas neues und aufregendes zu hören, habe er zwar noch nicht aufgegeben, aber: "Das Bild eines Musikers, der im 'Starbucks' an seinem MacBook hängt, ist für mich nicht vergleichbar mit zwei ausgehungerten Studenten, die an gestohlenen Synthesizern und schäbigen Tonbandgeräten in ihren Schlafzimmern herumexperimentieren."

Jenes liebevoll gezeichnete Bild ist für Anderson geradezu typisch für die damals nur wenig beachteten und heute in Vergessenheit geratenen Pioniere britischer Elektronik-Klänge. Denn obgleich den meisten New-Romantic-Gruppen immer wieder eine stilistische Nähe zu Kraftwerk attestiert wurde (in manchen Fällen mag das auch tatsächlich stimmen), entstand in England ein ganz eigener, vom Geist des Punk beeinflusster Dilettanten-Elektro, der nicht nur in direktem Bezug zur kargen Lebenswirklichkeit vieler britischer Jugendlicher stand, sondern den Weg für den Synthesizer als voll anerkanntes Instrument in der Popmusik ebnete.

Anderson selbst bemerkte recht schnell, dass die Informationslage zu dieser Mini-S
zene innerhalb der subversiven Strömungen der Endsiebziger recht karg ist: "Ich war auf der Suche nach einigen ausgefallenen Aufnahmen von Cherry Red aus dieser Zeit – A Tent, Kevin Harrison, Morgan Fisher, Eyeless In Gaza und so weiter. Es hat mich echt verwundert, wie wenig ich eigentlich darüber wusste. Punk und Post Punk waren vorherrschend, also gitarrenlastige Musik mit vielleicht einigen eingeworfenen mechanischen Rhythmen. All die interessanten Elektronik-Projekte gingen damals völlig unter. Im Gegensatz zu Amerika gab es hier keine farbige Bevölkerung, die aus den Disco-Sounds Electro und House entwickelten. Unsere Wurzeln liegen bei den technikbegeisterten Wissenschaftlern, was ich sehr faszinierend fand." Je mehr er sich mit dieser Materie auseinandersetzte, desto stärker wuchs in ihm der Wunsch, "Close To The Noise Floor" zu realisieren.

Alleine ist so eine Mammutaufgabe natürlich nicht zu bewältigen, schon weil er als "Nachkomme" auf die Quellen anderer angewiesen ist, die diese Epoche vielleicht miterlebt, im besten Fall sogar mitgestaltet haben. In Dave Henderson fand Richard seinen Mann: "Er besuchte nicht nur die Konzerte dieser Bands, sondern spielte in vielen Projekten selber
mit. Außerdem verfasste er auch jede Menge Texte über sie." Seine Artikelreihe "Wild Planet", die Henderson 1983 im Sounds Magazine veröffentlichte, diente nicht nur als Orientierungspunkt für Richard Anderson, sondern füllt auch einen Teil des Booklets. "Seine Berichte lassen erahnen, wie spannend diese Zeit war, als man überall neue Gruppen hören konnte", schwärmt er.

Wie uns die Geschichte lehrt, schafften einige von diesen hoffnungsvollen Talenten von vor rund 40 Jahren sogar den Sprung in die Charts. Prominentestes Beispiel auf "Close To The Noise Floor" sind zweifelsohne The Human League (vertreten mit ihrem unkaputtbaren "Being Boiled"), die aber, so verraten es die einleitenden Zeilen im CD-Heftchen, bei ihren ersten Auftritten als Vorband von den Rezillos gnadenlos ausgepfiffen wurden. Und auch John Foxx, Blancmange, OMD oder Throbbing Gristle gingen aus diesen amorphen Konglomerat aus Musikern, Technikfreaks und Kunststudenten strahlend hervor und werden bis heute kultig verehrt.

Ihrer Stücke habhaft zu werden,
stellte natürlich keine größeren Probleme dar. Doch wie sieht es mit all den anderen Bands aus, deren Oeuvre nur in kleiner Auflage vertrieben wurde? Auch hier kommt Dave Henderson ins Spiel. Dessen weit verzweigtes Netzwerk aus jenen Tagen ist natürlich noch immer aktiv. Außerdem konnte Richard auch auf Hilfe aus Deutschland bauen: "Frank Maier, ein liebenswerter Typ, betreibt das feine Label Vinyl On Demand und ist spezialisiert auf vergriffene Juwelen, vor allem aus der damals florierenden Kassettenszene, in der viele dieser Gruppen beheimatet waren."
Seine Mitarbeit bemisst Anderson sehr hoch: In der Danksagung animiert er den Leser erfrischend uneigennützig, doch mal bei Vinyl On Demand zu stöbern.

Er selbst fischte aus dieser brodelnden Ursuppe besonders schillernde Exemplare heraus – wie beispielsweise British Standard Unit, deren Coverversion von Rod Stewarts "D'Ya Think I'm Sexy" in puncto Abgedrehtheit locker auf einer Stufe mit Devos oft herangezogene "Satisfaction"-Parodie steht (und zu Andersons absoluten Highlights des Samplers zählt). Oder auch die Britsh Electric Foundation, jenes Interimsprojekt von Martyn Ware und Ian Marsh, die zu diesem Zeitpunkt nicht mehr bei Human League waren, Heaven 17 aber noch nicht existierte.


Bis aber Moog, Korg und Co. ihren Siegeszug in den Mainstream antraten, entlockten die vergessenen Virtuosen den Maschinen düstere Klangwände, knarzig-industrielle Störgeräusche und kindisch-naive Tonfolgen. All dies vereinigt sich in "Close To The Noise Floor" zu einem mit Liebe erzählten Kapitel der Musikgeschichte, das mit seinen vielen Fotos und Kommentaren von Musikern wie Weggefährten dieser Zeit vor dem geistigen Auge wieder scharfe Konturen annimmt – und dem drögen Erscheinungsbild des
konturlos weichgezeichneten Gegenwarts-Elektro-Pop einen Spiegel vorhält. Umdenken tut also Not, "Close To The Noise Floor" liefert den ersten Anstoß dazu – dank Richard Andersons Liebe zur originären Maschinenmusik.

||TEXT:  DANIEL DRESSLER  | DATUM: 13.04.16 |   KONTAKT |  WEITER:  ASP "VERFALLEN FOLGE 2: FASSADEN">


Webseite:
www.cherryred.co.uk

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COVER © CHERRY RED RECORDS


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