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ROME "GATES OF EUROPE": FARBE BEKENNEN

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Der 24. Februar 2022: Russland greift die Ukraine an, nachdem die selbst ernannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk um militärischen Beistand gebeten haben. Es ist der Beginn eines Krieges auf europäischem Boden. Ein Umstand, den die wenigsten für möglich gehalten haben, nachdem auf diesem Kontinent in den letzten Dekaden kein größeres militärisches Manöver stattgefunden hat.

Das wird Jérôme Reuter alias Rome zweifelsohne hart getroffen haben. Schließlich hat der Mann bereits in seinen früheren Alben von Freiheit und Unterdrückung gesungen. Wie beispielsweise bei "Flowers From Exile" aus dem Jahre 2009, bei dem der Musiker auch das persönliche Schicksal seiner Verwandten (Urgroßonkel) beleuchtete und die Frage nach Unterdrückung und Auswanderung vor dem Hintergrund des spanischen Bürgerkrieges von 1936 bis 1939 beleuchtete. Auch das fünf Jahre später veröffentlichte "A Passage To Rhodesia" hatte die vielfältigen Spannungen der früheren britischen Kronkolonie Südrhodesien zum Thema. Das dortige Supremat einer weißen Minderheit machte das Land zum Pulverfass und gipfelte 1980 zum Ende der 1889 gegründeten Kolonie. Fortan hieß Rhodesien nun Simbabwe und schlitterte von einer Unrechtsregierung in die nächste, denn Präsident Robert Mugabe baute nach und nach seine Macht aus und herrschte spätestens um die Jahrtausendwende bis 2017 diktatorisch, ehe er zwei Jahre später starb.

All das konnte Jérôme in epischer Breite und mit dem Blick eines reflektierenden Chronisten in seinen Songs relativ objektiv analysieren und dabei mehrere Sichtweisen skizzieren. Doch wie soll man reagieren, wenn ein Krieg mitten im Gange ist - und gefühlt vor unserer Haustür stattfindet? Ohne Zweifel besitzt "Gates Of Europe" eine ganz andere Atmosphäre. Die Songs wirken dringlich, eindringlich und manchmal geradezu alert. Der Titelsong, gleichzeitig Eröffnungsstück des Albums, ist eine Collage aus verschiedenen Meldungen über den Beginn des Krieges. Unter mollschwangeren Orgeltönen, die das mediale Stimmengewirr gepaart mit Einschlägen von Raketen untermalen, zerbirst die europäische Grundordnung, am Ende des Intros heißt es: "This is a dark day for europe". Ohnehin ist der Gebrauch von Sprachsamples dieses Mal exorbitant hoch. Sie wirken wie die Vergewisserung des Sängers, auf der richtigen Seite zu stehen. Gleichzeitig fungieren die Sprachfetzen als flüchtige Dokumentation des Schreckens, die auch nachfolgende Generationen an den Ablauf dieses zerstörerischen Ereignisses erinnern soll.

Da ist eine neutrale Betrachtung der Lage zwar wünschenswert, aber angesichts der frischen Eindrücke kaum möglich, und auch der Musiker, der sogar noch vor Kriegsbeginn in die Ukraine gefahren ist, um dort aufzutreten - trotz eindringlicher Warnungen der Behörden -, kann nicht anders, als sich mit dem überfallenen Staat zu solidarisieren. Übrigens sind Rome eine der ersten Bands gewesen, die seit Kriegsbeginn wieder nach Kiew und Lwiw gekommen sind, um dort aufzutreten. Darüber hinaus hat Reuter Charity-Konzerte veranstaltet, um den Erlös an die Ukraine zu senden. Wo andere also nur zu Lippenbekenntnissen fähig sind, lässt er seinen Worten auch Taten folgen.

Das macht "Gates Of Europe" einerseits angreifbar, weil es sich relativ unreflektiert auf die Seite Ukraines stellt, ist aber in seiner leidenschaftlichen und auch mutmachenden Rhetorik ein explizites Album geworden, das es so von Rome noch nicht gegeben hat. "Strength has two colours: yellow and blue" heißt es da mutmachend in "Yellow And Blue", während das Sprachsample "How Came Beauty Against This Blackness" auch Reuters Gedankenwelt offenlegt. Von der "Gewalt des Guten" ist da die Rede, die das Unrechtssystem verhindert. Die Zeit der Diplomatie, des "Wandel durch Handel", wie man den wirtschaftlichen Kuschelkurs mit Putin gerne umschrieben hat, ist nun endgültig vorbei. Russland hat sich völkerrechtswidrig verhalten und muss, geht es nach dem Album, auf militärischem Weg in seine Schranken verwiesen werden.

Deswegen wirkt "Eagles Of The Trident" mit seinen beschwörenden Schlachtengesängen ("Einzig und allein durch brutalsten Kampf") wie die tönerne Mobilmachung, und der Ausspruch "Slava ukraini" ("Ruhm der Ukraine"), einerseits Durchhalteparole der Bevölkerung, aber auch von rechten ukrainischen Gruppierungen für ihre Zwecke missbraucht, glorifiziert einmal mehr den kleinen Staat, der sich - zumindest flächenmäßig - einer Übermacht entgegenstellen muss.

Bei aller Sorge und dem daraus resultierenden klanglichen Widerstand finden sich auch tröstende, friedvolle Momente wie "Ballad Of Mariupol", einem Song wie ein Hoffnungsschimmer für die in Angst und Schrecken lebenden Bewohnern der strategisch wichtigen Hafenstadt. Und nicht selten schafft Rome sogar eingängige Kleinode. "Death Of A Lifetime", das wie eine kompositorische Mischung aus Deine Lakaien und Depeche Mode klingt, gehört zu den vielleicht poppigsten Stücken in Romes kompletten musikalischen Kosmos.

"Gates Of Europe" reiht sich nahtlos in die Genealogie des Darkfolkprojekts ein und bildet gleichzeitig eine Sonderstellung. Denn das Album ist zum ersten Mal keine reine Betrachtung eines vergangenen Geschehens, sondern ein Kommentar zur Gegenwart, eine 50-minütige Abhandlung zur Lage des Kontinents Europa. Vielleicht klingt Jérôme deswegen in vielen Songs wie von innerer Unruhe gepackt. Sein geschmeidiger Bariton weicht einer höheren Stimmlage, die alarmierend, mahnend, aber auch motivierend und energiespendend wirkt.

Sicherlich ist die Platte in seinen Aussagen teilweise streitbar, doch die unmittelbare künstlerische Aufarbeitung eines noch nicht abgeschlossenen Verbrechens an die Menschlichkeit hat Rome zu musikalischen Höchstleistungen angetrieben. Das Album zählt zu den wichtigsten ihrer Karriere und endet mit einer berührenden Aufnahme eines ukrainischen Volksliedes, das von Menschen in einem Luftschutzbunker gesungen wurde. "Archives Of Silence" versprüht selbst in der ausweglosen Situation noch so etwas wie Zuversicht und beendet "Gates Of Europe" damit voller Hoffnung, die bekanntlich zuletzt stirbt.

Webseite:
www.rome.lu

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