MIND.IN.A.BOX VS. KRUDER & DORFMEISTER VS. MESH: ZEITLOSE KOSTBARKEITEN - UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR

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MIND.IN.A.BOX VS. KRUDER & DORFMEISTER VS. MESH: ZEITLOSE KOSTBARKEITEN

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Vor 20 Jahren sah sich die elektronische Musikszene im Schwitzkasten von Future Pop, Hellectro und einigen retrograden Synthie-Pop-Verfechtern. Das war nicht weiter schlimm, denn die Qualität der meisten Veröffentlichungen war durchaus annehmbar. Dennoch lechzte der Autor dieser Zeilen nach wirklicher Innovation, nach etwas noch nie Gehörtem. Am 1. Juni war es soweit: Unter der Katalognummer "mind074" des Labels Mindbase betrat ein Projekt das Geschehen, welches mit ihrer Musik eine neue Ära der elektronischen Klangerzeugung einläuten sollte. Der Name: Mind.In.A.Box, die Platte: "Lost Alone".

Der Act aus Wien hob sich vor allem durch ein ausgefeiltes Storytelling ab, das in dieser Detailversessenheit nur vergleichbar mit den monumentalen Konzeptalben diverser 70er-Rockbands ist. Dabei nutzten die beiden Musiker Stefan Poiss und Markus Hadwieger die Technik der Stimmverfremdung als Stilmittel, um die verschiedenen Ebenen der Kommunikation innerhalb der Geschichte zu verdeutlichen: Dialoge, Selbstgespräche und unterbewusste Gedankengänge.

Das Album griff auf cassandrische Weise die Zukunft vorweg: Es geht um die immer größer werdende Einsamkeit des Menschen in einer egozentrisch konnotierten Welt. "In a world where minds live in boxes, everyone of them has to make a decision". Diese Präambel, die auf jeder Veröffentlichung von Mind.In.A.Box zu lesen war, beschreibt den dystopischen Charakter der Cyberpunk-Saga, in der es um den Agenten Black geht, der in einer an "Matrix" und "1984" angelehnten totalitären Welt gegen die so genannte "Agency", der er selbst einmal angehörte, kämpft.

Eingebettet in einen Klangkosmos, der sich sämtlicher Kategorisierungsversuche entzieht, denkt das Projekt elektronische Musik komplett neu. Die sphärisch-dunklen Sounds dienen in erster Linie der emotionalen Vertiefung der Texte. "Waiting" und "Forever Gone" lässt zu dem Poiss' Faible für Hörspiele durchschimmern (auf dem letzten Album "Black And White"  ist diese Liebe mittlerweile unüberhörbar geworden). Dieser Kunstgriff dient ganz pragmatisch dazu, die Geschichte voranzutreiben, bietet aber eine willkommene Abwechslung in dem ohnehin nicht arm an Höhepunkten besetzten Debüt.

Laut Wikipedia wird das Projekt dem Future-Pop-Genre zugeschrieben, doch dieser Vergleich greift zu kurz, da die epische Breite der Sounds nicht mit den oftmals sehr schematischen Songs anderer Gruppen übereinstimmt. Das war letzten Endes auch der Grund, warum Stücke wie "Change" oder "Take My Soul", bei aller Tanzbarkeit, selten Gast bei den Szene-DJs waren. "Zu sperrig", hieß es oftmals. Womit sie auch nicht ganz unrecht hatten. Ein Song wie "Questions" beispielsweise verschränkt sich durch eine nur angedeutete Strophe-Refrain-Strophe-Struktur, "You Will See" wechselt gar in ein anderes musikalisches Thema. "Lost Alone" ist ein anspruchsvolles Hörvergnügen - aber deswegen auch 20 Jahre später immer noch spannend.

Ebenfalls in Wien passierte ein anderer magischer Moment, der die Musikwelt - zumindest teilweise - auf links drehen sollte. Peter Kruder und Richard Dorfmeister bringen ihre "The K&D Sessions" heraus. Dabei handelt es sich um Remixe, welche die beiden für andere namhafte Künstler wie Depeche Mode, Rocker's Hifi oder Roni Size angefertigt haben und zusammengefasst auf eine Veröffentlichung im Non-Stop-Mix präsentieren.

Davor war der Weg der beiden Anfangdreißiger, die sie zu diesem Zeitpunkt waren, steinig. Kruder, gelernter Friseur, tingelte mit verschiedenen Bands durch die Lande, Dorfmeister, ausgebildet in Querflöte und Gitarre, hatte bereits in den 80ern sein Faible für elektronische Musik entdeckt. Erfolgreich war aber auch er nicht mit seinen ersten musikalischen Gehversuchen. Zudem nutzten beide ihre doch eher sperrigen Nachnamen, anstatt sich schmissige Künstlernamen auszudenken, was "Branchenkenner" für pures Kassengift hielten.

Dass diese Veröffentlichung nicht nur ein Erfolg war, sondern das Verständnis von elektronischer Musik komplett neu definierte, liegt an der Art und Weise, wie die beiden Österreicher den Begriff des Remixers interpretierten. Sie nahmen als einzige Ingredienz des Originals lediglich die Gesangsspur, um die sie aber einen komplett neuen Track herum bauten. Während in der kommerziell erfolgreichen Rave-, Techno- und Eurodance-Ära wenige Jahre zuvor das Wort "Remix" eigentlich nur noch gleichbedeutend war mit " inspirationsloses Füllmaterial" hastig produzierter Singles, haben Kruder & Dorfmeister die Kunst der Neuinterpretation nicht nur wiederaufleben lassen, sondern konsequent weitergedacht und somit ihre Coolness zurückgegeben.

Beeinflusst von den damals prosperierenden Subgenres Drum'n'Bass, Trip Hop und Dub, waren ihre Remixe von einer haschumwölkten Entspanntheit umgeben (und auch die beiden Musiker haben zugegeben, dass durchaus der eine oder andere Joint bei den Produktionen herumgereicht wurde), die sich durch redundante Melodiefiguren, wabernde Bässe und vetrackten, aber unaufdringlichen Beats auszeichnen. Peter Kruder und Richard Dorfmeister haben das erfunden, was man später als "Mood Music" titulieren würde.

Ihre Musik ebnete den Weg für die breite Akzeptanz von Downtempo und Chill-Out-Musik. Was früher ein eher unbeachtetes Nischendasein während den After Hours in den Clubs fristete, wurde zum Nonplusultra stilvoller Musiktapete für urbane Lebensgestaltung. Gefühlt jede Vernissage und jedes hippe Café ließ die "K&D-Sessions" in Dauerschleife laufen. Samplerreihen wie "Café Del Mar" und "Buddha Bar" verwässerten die einstige Idee des Doppelalbums und degradierten die kunstvoll geklöppelten Remixe zu "Lounge Music". Bisweilen wurde der alte Begriff des "Easy Listenings" wieder verwendet. Das waren die "K&D Sessions" aber nie.

Wie einst die in den 50ern veröffentlichte Zusammenstellung "Anthology Of American Folk Music" Leitstern und tönerne Bibel für nachkommende Singer/Songwriter wie Bob Dylan gewesen ist, standen die Sessions ebenfalls monolithen und als Fixpunkt in der jüngeren Musikgeschichte, auf den sich viele nachfolgende Musikprouzentinnen und -produzenten berufen. Der Erfolg von St. Germains "Tourist" von 2001 oder Mobys 99er Meisterwerk "Play" sind auch auf Kruder & Dorfmeisters Wirken zurückzuführen. In der aktuellen Edition kann man noch einmal in die ikonischen Sounds eintauchen und zudem auf einer dritten CD noch sieben weitere Remixe entdecken, die es damals nicht auf die Veröffnetlichung schafften. Madonnas "Nothing Really Matters", ein elfminütiger tiefenentspannter Trip mit dezent dubfunkigem Finale, zählt dabei zu den absoluten Höhepunkten der Neuauflage.

Von derart revolutionären Ambitionen waren Mesh meilenweit entfernt, als sie zur etwa gleichen Zeit das Album "The Point At Which It Falls Apart" veröffentlichten. Zumindest für die Band aus Bristol jedoch sollte ihr zweites Album einen großen Aha-Effekt bescheren. Denn davor waren Sänger und Gitarrist Mark Hockings sowie Keyboarder Richard Silverthorn und Neil Taylor (der 2006 die Band verließ) drei unter vielen Musikern, die sich Anfang der 90er zusammentaten, um Musik zu machen. Elektronische Musik. Und wie so viele andere Bands auch, standen sie erst einmal stramm in der Nähe von Depeche Mode.

Zwar besaßen die erste EP "Fragile" von 1994 und der zwei Jahre erschienene Erstling "In This Place Forever" noch die typischen Kinderkrankheiten wie inkongruente Spannungsbögen und viele Experimente, in denen Mesh noch nach "ihrem" Sound suchten. Doch bereits zwei wesentliche Merkmale kristallisierten sich in der Frühphase heraus: Marks dramatische und helle Stimme und ihr Wille, großartige Popmelodien zu erschaffen. Zum Indikator dafür avancierte "You Didn't Want Me", einem veritablen kleinen Clb-Hit, der bei aller Minimalität schon den Grundstein für die nächsten, deutlich üppiger arrangierten Songs legen sollte.

Was kompositorisch für das Trio möglich war, erfuhr es mit "The Point At Which It Falls Apart". Entgegen des Albumtitels brach nichts zusammen, sondern formte sich zu einem erstmals in sich schlüssigen Soundgewand. Auch wenn sich das Eröffnungsstück "I Fall Over" noch offensichtlich im Fahrwasser von Depeche Modes großartigem Werk "Songs Of Faith And Devotion" bewegt, zeigt sich "Self Healing Lie" schon beeindruckend selbständig. Mesh setzt hier den straighten Beats breite Gitarrenriffs entgegen und verleiht dem Stück eine überzeugende Erdigkeit.

Der eigentliche Moment großen Erkenntnisgewinns kommt endgültig mit "People Like Me With This Gun". In diesem Song hat Mesh die Erfolgsformel aus melancholischen Texten, dezent angedunkelten Sounds im Breitwandformat und einer mitreißenden stimmlichen Performance erstmals gewinnbringend angewendet. In diesem Moment löst sich die Gruppe um den stets bemützten Sänger aus dem Schatten ihrer Kollegen aus Basildon und beginnt, eine eigene Klangsprache zu entwickeln, die sich im Laufe der Jahre weiter ausformen sollte. Auch "It Scares Me" besitzt das Talent, bereits nach dem ersten Durchlauf sich ins Gehör zu verbeißen. Kaum anders der Effekt bei "Not Prepared".

Noch allerdings war die Metamorphose nicht ganz vollzogen, und an einigen Stellen finden sich noch die Rückgriffe auf die etwas experimentellere Frühphase. So endet "Self Healing Lie" mit brodeligen, geradezu aggressiven Synthie-Sequenzen, während "My Defender" an die reduzierte Ästhetik von "You Didn't Want Me" erinnert. Doch auch hier merkt man, dass für Hockings, Silverthorne und Taylor der einst gesteckte Rahmen nicht mehr ausreicht. Und so drängt auch in diesem Song alles in Richtung Grandezza.

Das nachfolgende Album "Who Watches Over Me?" (2002) und vor allem das immer noch nah an der Perfektion befindliche "A Perfect Solution" (2006) ließen auch die letzten Hemmungen fallen und gaben den großartigen Melodien, die schon immer in ihren Kompositionen schlummerten, endlich den Raum, den sie benötigten. Von da an stieg die Popularität, sodass selbst ein gewisser Robbie Williams mit einem Mesh-T-Shirt gesichtet wurde. Dennoch sind sie immer noch kredibel genug für die Schwarze Szene.

In der remasterten Version erstrahlt "The Point At..." in neuem Glanz und macht vergessen, dass diese Veröffentlichung auch schon wieder 25 Jahre auf dem Buckel hat. Wo nur ist die Zeit geblieben?!

||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 26.11.24 | KONTAKT | WEITER: KURZ ANGESPIELT 12/24>

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Cover © THYX Music (Mind.In.A.Box), K7! (Kruder & Dorfmeister), Dependent (Mesh)

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