Wie nicht anders zu erwarten, türmte sich auch am Ende von 2024 wieder so viel Musik, dass die Zeit, darüber zu schreiben, einfach fehlte. Bei UNTER.TON kommt aber nichts weg. Die Besprechungen werden selbstverständlich nachgeholt. Denn gute Musik kennt bekanntlich kein Verfallsdatum. Deswegen ist unter anderem auch das 35 Lenze zählende Debütalbum von Myrna Loy in diese erste Kurzbesprechung des neuen Jahres mit reingerutscht.
Nach dem unerwarteten Ende der Band ROSI suchte Gitarrist Mirco Rappsilber einen neuen Mitstreiter, mit dem er seine musikalischen Ideen weiter in die Tat umsetzen konnte. Fündig wurde er in Sänger Rio Black, der in den 00er Jahren Atomic Neon ins Leben rief. Wie sehr die Chemie zwischen den beiden stimmt, dokumentiert ihr Debut "Niemals genug", das einen unaufgeregten, aber tiefenwirksamen Post-Punk zelebriert.
Ob und wie groß ein Album wird, kann man eigentlich erst im Nachhinein sagen. Doch es gibt einige Releases, von denen von Anfang an klar gewesen war, dass sie einen bleibenden Eindruck ob ihrer innovativen Sounds hinterlassen würden. Dazu gehört Mind.In.A.Box' Debütalbum "Lost Alone" ebenso dazu wie die berühmten "K&D Sessions" von Kruder & Dorfmeister und "The Point At Which It Falls Apart" von Mesh. Alle drei Werke wurden nun neu aufgelegt und laden zu einer wohlig-wehmütigen Zeitreise ein.
Am Ende kackt die Ente. Das Jahr 2024 liegt in seinen letzten Zügen und presst noch mal atemberaubende Veröffentlichungen aus seinem Leib. Heavent, Holli und Das Kitsch nutzen dabei die deutsche Sprache mit einer spröden Lässigkeit und wiegen einen in anheimelnde Zufriedenheit. Aber wie so oft trügt der Schein: Ihre jüngsten Werke sind eine teilweise schmerzhafte Sinnsuche in einer Welt voller Sinnlosigkeiten.
Lecker bratzige Sounds an Weihnachten gewünscht? Dann sind Big Mountain County aus Italien und die britischen Inca Babies die ersten Adressen, die aufgesucht werden sollten. Erstere haben mit ihrem Album "Deep Drives" ein fiebriges Psychsexrock-Werk geschaffen, während letztere von ihrer reichhaltigen Erfahrung als Post-Punker zehren und auf "Ghost Mechanic Nine" ihr ganzes Können unter Beweis gestellt haben.
Was den Beruf des Musikjournalisten so wunderbar macht? Vielleicht solche Alben, wie sie in der elften "Kurz angespielt"-Ausgabe vorgestellt werden. Denn es handelt sich um Bands, die einem bis dato nichts oder kaum etwas gesagt haben, beziehungsweise deren Alben ohne höhere Erwartungen angehört werden. Um so größer ist die Freude, sobald die Erkenntnis eingetreten ist, dass es sich um fünf absolute Schmuckstücke handelt, angefangen mit Retro-80er-Electro von Plastic Estate bis zum experimentell unterfütterten Post Punk der Silence Industry.
Ihre Poesie ist konkret und doch voll enigmatischer Strahlkraft: Berqs und Streichelts aktuelle Veröffentlichungen nutzen die deutsche Sprache nicht. Sie spielen mit ihr. Und loten ihre Unschärfen aus. Berqs Lieder deklinieren dabei einen experimentellen, aber nie zu gespreizten Chanson-Pop durch, während Streichelt als Paradebeispiel der sogenannten Neuen Neuen Deutschen Welle 80er Synthie-Pop für das Jahr 2024 neu interpretiert.
In der letzten Runde unserer Kurzbesprechungen in diesem Jahr grasen wir noch mal die subkulturelle und alternative Musikszene ab, die besonders im Herbst noch einige prachtvolle Blüten bereithält. Beginnend mit schweren Rock-Ungetümen der Hamburger Band Billy Zach und abschließend mit den akustischen Celtic Folk Miniaturen von Dúo El Mar sind die letzten Monate des Jahres aus musikalischer Hinsicht "safe".
Erneut zeigt Ben Bekeschus alias Aus.Gleich überzeugend, wie tiefenentspannte Sounds kontemplative Stimmungen hervorrufen können. "Magnetschweben", eine Mischung aus eigenen Kompositionen und Neuabmischungen von Stücken anderer Musiker, achtet dabei konsequent auf eine anspruchsvolle Klangästhetik, die sich vom New-Age-Kitsch fernhält und tönerne Safespaces erschafft, in denen der Hörer zur Ruhe kommen kann.
Vielleicht liegt es auch daran, dass der Herbst Einzug ins Land hält, die Tage kürzer und kühler werden und das Leben sich zusehends in der guten Stube abspielt, weswegen die folkigen Klänge von The Family Grave und Gabria noch etwas mehr verfangen als üblich. Es geht zum einen über Liebe (aber nicht nur), zum anderen um Schlaflieder für Erwachsene (aber nicht nur). Songs für einen verregneten, windigen Abend bei einer gemütlichen Tasse Tee.
Selbst die alternativen Szenen haben ihre Helden, die ob ihres Erfolges sogar Aufmerksamkeit des Mainstreams auf sich ziehen. Und es gibt die kleinen Bands, die DIY-Projekte, welche ohne großes Label oder einer gut geölten PR-Maschinerie versuchen müssen, sich im schnelllebigen Musikbusiness zu bewähren. Das Projekt Synthbox des Musikers Jens Nagel und creating.paradise aus Hamburg sind sicherlich solche Underdogs; ihre aktuellen Veröffentlichungen belegen aber, dass man ihnen mehr Interesse entgegenbringen sollten.
Erneut eine illustre Frauenrunde bei der neuesten Ausgabe von "Kurz angespielt". Während die TradTöchter mit Fidel und Volksliedern im Schlepptau für fröhliche Feierei sorgen, lassen es Maria Nikola, Lea Thomas und Mo Kenney eher ruhig angehen. Jede dieser Acts besticht durch eine besondere Wärme, die uns in den kommenden Herbst- und Wintermonaten den Hauch von Sommer zurückbringt.
Dass das Stuttgarter Trio nicht gerade eine Kapelle der Glückseligkeit ist, dürfte hinlänglich bekannt sein. Doch mit ihrem neuesten Album "Wir waren hier" bricht sich die Hoffnungslosigkeit einer ganzen Generation Bahn, die zwischen Klimaaktivismus, fortwährender Selbstoptimierung und politischer Orientierungslosigkeit aufgerieben wurde. Am Ende hat man das Gefühl, dass die Band den totalen Zusammenbruch geradezu herbeisehnt.
Spätestens seit Joy Division wissen wir: Melancholie zeigt sich nicht nur in elegischen, unendlich traurigen Melodien, sondern auch in mitreißenden, episch aufgebauten Nummern. So sind "Mond" von Soror Dolorosa, ebenso wie "Indulgence" von The Search zwei hervorragende Beispiele musikalischen Weltschmerzes, hervorgerufen durch üppiges Arrangement und eingängige Melodien.
Die Neue Deutsche Welle hat in den frühen 80ern viele Musikerinnen, Musiker und Bands an Land gespült. Einige sind gekommen und geblieben, andere hat die Welle im Zuge ihrer Kommerzialisierung wieder aufgefressen. Und dann sind da noch Steinwolke, die zunächst als Folk-Band begonnen hat und dann mit "Katharine, Katharine" einen NDW-Gassenhauer erster Güte veröffentlichte. Nach einer langen Pause haben Steinwolke ihr Comeback angekündigt, gefolgt von einer neuen Platte Namens "Glück aus Glas". Grund genug, mal bei dem Familienunternehmen (die Band bestand zunächst aus Konrad, Andreas und Clemens Haas sowie dem adoptierten Dominic Diaz) nach dem Stand der Dinge zu fragen und auch mal auf die Zeit als NDW-Band wider Willen zu blicken. Andreas stand Rede und Antwort.
Als sie, etwas überraschend, mit "Katharine Katharine" der in den letzten Zügen liegenden Neuen Deutschen Welle einen weiteren Evergreen und sicheren Kandidaten für zukünftige Compilations zu diesem Phänomen der Popmusik schenkten, war Steinwolke für einen Sommer eine der angesagtesten Bands Deutschlands. Mitte der 80er brach sie auseinander; es folgten noch zwei Alben 1988 und 1994, ehe sich die Steinwolke hinter den Horizont verkroch. Nun kommen sie, erneut überraschend, aus der Stille und klingen auf "Glück aus Glas" wesentlich ernster, vor allem aber noch mehr nach Steinwolke als zu ihren erfolgreichsten Zeiten.
Dem Narrativ, dass die elektronische Musik sich nur noch wiederhole und jede neue nicht mehr als ein Abklatsch von (große Namen der Sparte hier eingeben) sei, wollen wir zwei beredte Beispiele entgegenhalten: LMX, das Projekt vom Filius des honorigen André Schmechta alias Sevren Ni-Arb (X-Marks The Pedwalk) und das aus Bogotá stammende Noromakina kredenzen uns Alben, bei denen die Elektronik einen sehr retrospektiven Charakter aufweist, aber nie zum Plagiat wird, sondern einen eigenständigen Sound entstehen lässt, der so faszinierend wie spannend ist.