9/19: IRIS, LOEWENHERTZ, WOLFRAM, JONTEKNIK, TR/ST - ELECTRO'S WHAT YOU MAKE IT
Zugegeben: Es scheint heutzutage noch schwerer zu sein, in der elektronischen Musik zu reüssieren - egal im welcher Spielart. Schließlich wurde schon von unmelodischem Krach bis hin zu den süßesten Klangversuchungen so ungefähr alles durchexerziert, was Moog und Konsorten eben abliefern können. Am Ende muss es aber der Musiker selbst sein, der nicht nur mit einem einigermaßen guten Wissen über die Maschinen auftrumpft, sondern es darüberhinaus auch schafft, etwas uni- wie delikates auf die Beine zu stellen.
[image:image-1]Allerdings gibt es nicht wenige Synthie-Pop-Verfechter, die Depeche Mode als jene Gruppe ansehen, die die höchste Evolutionsstufe dieses Genres erklommen hätte. Diesen Dogmatikern entgeht aber dann auch so manch interessanter Act, der diese Musik weiterdenkt. In England ist das vor allem Mesh, die über Jahre ihren eigenen Synthie-Sound kreiert haben, aber auch aus den Vereinigten Staaten macht eine Band seit ungefähr 20 Jahren mit einer entspannten und gleichzeitig attraktiv angerockten Synthesizer-Musik regelmäßig auf sich aufmerksam: Iris. Doch gerade diese Melange aus träumerischen Sequenzen, angezerrten Saiteninstrumenten und einem insgesamt sehr einprägsamen Klang mit unaufgeregter Schlagzeugbeteiligung scheint - wie so oft - für europäische Ohren zu amerikanisch zu klingen und vice versa amerikanischen Gehörgängen eine Spur zu sehr "old europe" nachzueifern, weswegen der durchschlagende Erfolg ausgeblieben ist. Vielleicht steht das neue Album "Six" einfach auch zu sehr entgegen der recht schroffen Gangart, die besonders bei der Schwarzen Szene - wo sich Projektleiter Andrew Sega sicherlich auch ein wenig sieht - momentan en vogue ist. Es zu übersehen wäre allerdings angesichts solch bittersüßer Pop-Perlen wie "Third Strike", "Take The Pain" oder "One Kind" (um nur einige zu nennen) ein wahrer Frevel. Iris zeigt sich auf ihrem aktuellen Longplayer so wandelbar und gleichzeitig unverkrampft wie nie zuvor. Ihre Liebe zu ausladenden Melodien, besonders gut bei den schwelgerischen, in einen Fade-Out laufenden, Schlussakkorden von "Out Of My Mind", ist beeindruckend und hinterlässt einen mit einem sanften Lächeln ob der Tatsache, dass es dieser Band mit jedem weiteren Album gelingt, dem auf der Stelle stehenden Electro-Pop einige interessante Wendungen zu verleihen, sodass man ihre Songs eben nicht einfach mal so weghört, sondern sie bewusst wahrnimmt.
[image:image-2]Der gleiche Effekt stellt sich auch bei der deutschen Formation Loewenhertz ein, deren Album "Traumfaenger" seit kurzem auf dem Markt ist. Die Aufmerksamkeit generieren Andreas Scherer und Alexander Pfahl aber auf eine ganz spezielle Art und Weise: Hört man sich nämlich das erste Lied "Unter Wasser" an, ist man geneigt, "Schlager" zu rufen. Denn mit einer bisschen fetteren Produktion und weiblichem Gesang hätte dieses Lied sogar aus dem Repertoire von Helene Fischer stammen können. Und doch sind da so kleine Widerhaken, irgendeine Dynamik innerhalb der transparenten Sequenzen und der einnehmend klaren Stimme, sodass diese Nummer auch als deutschsprachiger Synthie-Pop- mit kleiner Depri-Kante durchgewunken werden kann. Um diesen Zwiespalt etwas abzumildern, bleiben die nachfolgenden Stücke "Golden" und "Right As Rain" dem international verständlichen Englisch verpflichtet. Doch besitzen diese trotz offensichtlich internationaler Ausrichtung ein ziemlich deutsches Electro-Pop-Verständnis. Die Bonus-Sektion von "Traumfaenger" gibt da eine erhellende Auskunft über Loewenhertz' musikalischer Sozialisation Hier werden einige Neue-Deutsche-Welle-Klassiker von passabel bis überraschend gut neu interpretiert. Bemerkenswert ist vor allem "Wenn der Mond die Sonne berührt", eine Hubert-Kah-Schmonzette von 1984, die allerdings die spätere Richtung von Popmusik "made in Germany" für die kommenden Jahre weisen sollte: bombastisch, elektronisch, sophistisch - und mit gerade soviel Kitsch beschlagen, dass es nicht zu "cheesy" wird. Im Dunstkreis von Michel Cretu hat sich so eine neue Musikergeneration entwickelt, zu deren Nachkommen sicherlich auch Loewenhertz zählen. Und so kontrovers auch damals diese Klänge aufgenommen wurden, wird auch "Traumfaenger" sicherlich nicht jedem gefallen. Dass Loewenhertz-Songs aber Klasse besitzen, steht außer Frage.
[image:image-3]Noch eine Spur gewagter dürfte für einige Musikliebhaber das Album "Amadeus" ausfallen, dass der Wiener DJ und Musikproduzent Wolfram sich erdacht hat. Besonders, weil er ein wenig die Bad-Taste-Momente der elektronischen Musik für sich entdeckt und daraus etwas sehr eigenwilliges - und auf seine Weise auch geniales - entwickelt hat. Vom French-House seiner Kollegen von Daft Punk, aber auch von treibendem Italo-Disco und aktuellen Retro-Wave beeinflusst, lässt er die elektronisch induzierte Tanzmusik in Zeitraffer Revue passieren - inklusive einiger Gäste aus jenen Dekaden. So hat er für "My Love Is For Real" Euro-Dance-Star Haddaway aus der Mottenkiste geholt, und die Frauenstimme auf "What Is It Like" stammt von niemand anderem als 90s-Sex-Ikone Pamela Anderson. Doch nicht nur die Wahl der gesanglichen Unterstützer sollte Aufmerksamkeit schaffen, sondern auch die der Songs. Denn natürlich zeigt sich Wolframs Liebe zur "alten" Musik besonders in der Neuinterpretation verschiedener Klassiker. Dabei gibt sich der Österreicher beim Disco-Schinken "Automatic Lover" (eingesungen übrigens von der wunderbaren Peaches) geradezu konservativ und hält sich nah am Original von Dee D. Jackson, während "Amadeus" eine komplette, leicht melancholische, Neubearbeitung von Falcos "Rock Me Amadeus" darstellt. Und dann sind da auch noch die kleinen, humorvollen Nummern wie "Rein", das inhaltlich ein bisschen an "Nein, Mann" von Laserkraft 3D erinnert. Hier jedoch versucht der Protagonist unter minimalem Acid-House-Gestampfe in den Club seiner Wahl zu gelangen. Sein Kumpel ist schon drin, der Türsteher lässt ihn aber nicht rein. Witziger könnte die Hommage an die Nöte des kleinen Clubgängers nicht ausfallen. "Amadeus" ist wie Brausepulver: irgendwie ziemlich künstlich, aber es schmeckt einfach saulecker und macht süchtig.
[image:image-4]Vergleiche dieser Art bei der Musik von Jonteknik zu ziehen, erübrigt sich, da er seine eigene Interpretation gleich zu Beginn seines Albums "Tectonics" mitliefert. "Tectonic Beats, shake the ground" - Jon Russell, so der Mann hinter diesem Projekt, will mit diesem Werk anscheinend die tektonische Plattenverschiebung mittels seiner schweren Beats etwas schneller vorantreiben. Oder ist der provozierend langsam gehaltene Electro mit Verweisen sowohl auf Kraftwerks "Computerwelt" als auch auf diverse andere Proto-Techno-Stücke eigentlich nur der musikalische Transfer der Kontinentaldrift? Egal: Jon Russell ist eine verdammt coole Socke, die aber auch über ein enormes Wissen verfügt. Das hört man den Stücken an (und ein Blick auf seine Jahrzehnte umfassende Bio auf seiner Homepage lässt einen staunen: Kollaboationen mit Paul Humphreys von OMD nebst Gattin Claudia Brücken von Propaganda schmücken unter anderem sein Portfolio). Tatsächlich verarbeitet der Mann, der sich selbst als großen Fan von Depeche Mode sieht, rund zwei Jahrzehnte elektronische Musik - überdeutlich sind 80er- und 90er-Anleihen herauszuhören - und verpackt sie mit etwas Erdkunde und einer latenten Liebe zu hohen Bergen: "Mount Fuji" wird ebenfalls ein Klangdenkmal errichtet wie dem "Mount Etna" und dem "Yellowstone". Massive Töne für massive Landschaften eben. Dem Connaisseur synthetischer Musik werden indes die geschickt gelegten Zitate das Schmunzeln auf die Lippen legen. Hören wir bei "Yellowstone" nicht auch ein bisschen "The Circus Of Death" von The Human League? Und könnten die kratzigen Sounds nicht auch aus der Scratch-Version von Fun Funs "Happy Station" stammen? Ach ja, und "Continental Drift" war wohl auch kurz mal bei Gorgio Moroder vorbeischauen, oder? Das wichtigste jedoch: Jon Russell weiß, was er macht. Und er macht es verdammt gut!
[image:image-5]Man muss natürlich nicht gleich mit der Tür, respektive dem Synthesizer, ins Haus fallen. Robert Alfons alias TR/ST beispielsweise setzt auf seinem neuesten Werk "The Destroyer 2" einen selbsterklärenden Song an den Anfang. "Enduring Chill" ist eine zweiminütige Prelude mit flirrenden Geigen, traurig verschwommenem Klavier und subbassigen Flächen. Dass es dann mit "Iris" geradezu euphorisch-breitwandig in Richtung großer Geste geht, ist davor noch nicht abzusehen. Genausowenig wie die schimmernde Transparenz des Titeltracks, das mit seltsam verhalltem Gesang und trockenem Schlagwerk ohne Umwege den Hörer erreicht. Es ist diese urplötzliche Wandelbarkeit, die im Vergleich zum ersten Teil von "Destroyer", Anfang dieses Jahres erschienen, in dieser Art gar nicht zu erwarten war. Schließlich saß der Vorgänger fest im discoiden Sattel, wenngleich die markant-larmoyante Stimme Roberts und die immer etwas vertrackten Sequenzen ein gewisses Art-Pop-Verständnis implizierten. Das wiederum verwundert wenig, zumal TR/ST als Gemeinschaftsprojekt mit Maya Postepski, ihres Zeichens Mitglied bei Austra, gestartet ist. Doch scheinen sich erst jetzt die beiden Pole aus hypnotisierender Eingängigkeit respektive Tanzbarkeit und eines kontemplativen Zurückwerfens auf sich selbst klar zu definieren und positionieren. Es ist diese Dynamik, aus der "Destroyer 2" seine ganze Grandezza zieht und zu einer wunderbaren Klangerfahrung wird, wie sie in seiner spielerischen Intensität vielleicht noch vergleichbar mit "Hurry Up, We're Dreaming" ist, jenem Meilenstein von einem Doppelalbum, das von M83 anno 2011 auf die Menschheit losgelassen worden ist. Denn TR/ST schafft es wie ihre französischen Kollegen, dem Genre Synthie-Pop einen weiteren unerwarteten Dreh zu verpassen.
||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 06.11.19 | KONTAKT | WEITER: DANIEL GREEN VS. BALDABIOU>
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Covers © Dependent/Al!ve (Iris), Echozone/Soulfood (Loewenhertz), Public Posession/Live From Earth (Wolfram), The People's Electric (Jonteknik), House Arrest (TR/ST)
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