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KARL BARTOS "THE CABINET OF DR. CALIGARI": DIE TRANSFORMATION DER MENSCH-MASCHINE

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Der verstorbene Rheingold-Musiker Bodo Staiger hat im Buch "Electri_City" von Rüdiger Esch über Karl Bartos gesagt, er hat "diese schönen, tödlich kurzen Melodien geschrieben und gespielt". Das ehemalige Kraftwerk-Mitglied ist unter anderem mitverantwortlich für den großen Hit "Das Model" und erdachte die typuischen rhythmischen Figuren, welche die Band auszeichnete und die auch wegweisend für kommende Musikstile wie Techno und HipHop gewesen ist. War es verletzte Eitelkeit oder schiere Ignoranz, dass die Kraftwerk-Gründer Ralf und Florian Karl Bartos (und auch Wolfgang Flür) wie Angestellte behandelte? Immerhin hat Bartos bis 1991 bei den Electro-Pop-Pionieren durchgehalten, ehe er das Handtuch warf. Flür schied bereits vier Jahre vorher aus.

Dabei hätten sie sich kein besseres Mitglied vorstellen können. Bartos kam von der Klassik, studierte an der renommierten Robert Schumann Hochschule in Düsseldorf (die späteren Kraftwerker Henning Schmitz und Fritz Hilpert zählen ebenfalls zu den Absolventen) Klavier, Vibraphon und Schlagzeug. Sein handwerkliches Rüstzeug nordete die Elektronik-Pioniere ein und verwandelte sie von einer Krautband zu klar definierten Synthesizer-Avantgardisten.

Nach seinem Ausstieg blieb Bartos weiterhin der sequenzerbasierten Klangerzeugung treu und gründete Projekte wie Elektric Music, Electronic (mit Bernard Sumner von New Order) und lehrte selbst als Gastdozent an der Berliner Universität der Künste. Bartos war schon immer mehr als die willfährige Mensch-Maschine. Nun vollzieht sich eine weitere überraschende Transformation des Musikers.

Sein neuestes Werk steht in Verbindung mit einem deutschen Stummfilmklassiker, der seinerzeit mindestens genauso avantgardistisch und expressionistisch war, wie Kraftwerk es für die Popwelt gewesen ist. "Das Cabinet des Dr. Caligari" von Regisseur Robert Wiene gehört zu den Wegbereitern des Horrorgenres und zählt zweifelsfrei zu den Meilensteinen der Filmgeschichte. Bartos sei laut Pressemitteilung seit fast 20 Jahren mit dem Gedanken schwanger gegangen, "Das Cabinet des Dr. Caligari" neu zu vertonen. Solch eine Mammutaufgabe verlangt natürlich viel Vorlauf und sorgfältige Überlegungen.

Für dieses Unterfangen hat sich Bartos von seinem Image als Meister der Elektronik verabschiedet. Das macht bereits das Albumcover deutlich. Die aufgeräumte Optik erinnert flüchtig an die Veröffentlichungen der Deutschen Grammophon, während die Schriftart jene von "Trans Europa Express" aufgreift. Auf visueller Ebene entsteht so eine lose Verbindung zu Bartos' musikalischer Vergangenheit. Ihn selbst sieht man, mit Baskenmütze und schwarzem Hemd, in verschiedenen Körperhaltungen an einer Partitur sitzen. Bartos ist zum denkenden und fühlenden Komponisten geworden, zu einem Menschen, der die althergebrachte Kunst liebt und auch lebt.

Die modernen Klänge geehören aber stets zu seinem Repertoire. So ist der Soundtrack zu einer elektroakustischen Reise geworden, die, selbst wenn man den Film nicht gerade vor Augen hat, den expressionistischen Charakter des Streifens perfekt einfängt und in die Jetztzeit verfrachtet. Bartos musste sich dabei auf seinen Instinkt verlassen, denn die ursprünglichen Partituren von Filmkomponist Guiseppe Becce sind verschollen. Da er aber "Das Cabinet des Dr. Caligari" viele Male gesehen hat, passte er die Musik dem Rhythmus der Bilder an: Beschwingter Dreivierteltakte für die Volksfestszenen, surreale Soudscapes in den träumerisch-psychedelischen Momenten des Horrorfilms.

So wild und ungestüm das Wiene-Produkt, so sprunghaft ist auch Bartos' musikalischer Ansatz, der sein ganzes Können darlegt. Tragische Orgelfiguren, fiebrige Streicherminiaturen, atonal wirkende Drehleierklänge, moderne Filmmusikelemente und flirrende Soundscapes, die aus der Kraftwerk-Frühphase hätten stammen können (man fühlt sich bisweilen an die zweiteilige "Kometenmelodie" erinnert) finden auf diesem Album zusammen und kreieren eine kongeniale Stimmung, die den über 100 Jahre alten Film auf der auraler Ebene in die Gegenwart holt. "The Cabinet Of Dr. Caligari" bietet in Kombination mit dem Film großes Kino in seinem eigentlichen Wortsinne.

||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 16.02.24 | KONTAKT | WEITER: VARIOUS ARTISTS "NEXT WAVE ACID PUNX DEUX SECRET CUTS" VS. "ZEITGEIST CHROME VOL. 02" >

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Website:
www.karlbartos.com


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