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RATS ON RAFTS "THE MOON IS BIG": ROTTERDAM CALLING

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Es gehört schon eine Menge Chuzpe dazu, wenn vier Jungs beschließen, eine Rock-Band zu gründen, ohne auch nur halbwegs ein Instrument zu beherrschen. Seit Punk wissen wir aber, dass fehlende Fachkenntnis nicht zwangsläufig ein Hinderungsgrund sein muss: "Learning by doing" lautet die Devise.

Nach rund zehn Jahren hatten die Rotterdamer David Fagan, Arnoud Verheul, Joris Frowein und Florian Veenhuis dann genug vom Üben: Es sollte endlich losgehen! Im Falle von Rats On Rafts, wie sich die Jungs benannten, ist das Nichtwissen um Tonleitern und Dreiklänge fürwahr ein Segen.

Denn so frisch und unverblümt kann Post-Punk und New Wave im 21. Jahrhundert klingen, wenn Bauch und Herz an Stelle von Hirn und Verstand die Feder führen.


Bereits 2011 erblickte "The Moon Is Big" das Licht der Welt – allerdings nur in den Niederlanden. Jetzt ist das Debüt der Floß-Ratten
endlich auch hierzulande erhältlich; ein Schritt, der schon lange überfällig war.

Dieser energiegeladene Erstling setzt wahrlich ein fettes, rot leuchtendes Ausrufezeichen hinter die Ambitionen des Vierergespanns.


Dabei scheint das einführende "Number 22", ein ziemlich wirr eingespieltes, zweiminütiges Intro, zunächst einmal die schlimmsten Befürchtungen zu bestätigen: Haben wir es hier tatsächlich mit Stümpern zu tun, die uns ihre kakophonen Klangeskapaden als Kunst verkaufen wollen, in Wahrheit aber nur wertvolle Lebenszeit rauben?

Mitnichten! Die ersten Takte sind geschickt gelegte Finten der Jungs, die stets mit einem Augenzwinkern durch ihre rumpelnden Anarcho-Rock-Nummern laufen.


Wie ein trojanisches Pferd nistet sich "Number 22" in die Heimanlage – und entlässt sodann mit dem Titelsong eine geballte Ladung gepflegter
Wut aus seinem Bauch. Ein unbeirrbar rollender Bass unterfüttert die heulenden Gitarren, die wie Sirenen über der Szenerie schweben. Dazu krakeelt David bis zum Anschlag, dass es eine wahre Freude ist.

Hier werden 30 Jahre Post-Punk-Historie kurzerhand zusammengepresst, durchgeschüttelt und erfrischend neu ausgelegt.

Frei nach Joe Strummer: Rotterdam Calling!


Die Liebe der Rats on Rafts zur Hafenstadt ist tatsächlich unüberhör- und -sehbar. Fast schon kitschig mutet der Wellenschlag des Meeres an; gefolgt von einem Schiffshorn zu Beginn von "Sleeping In Rotterdam". Die verträumt schaukelnden Akkorde des Gitarristen Verheul klingen wie eine psychedelische Liebeserklärung an ihren Heimatort – genauso wie das Cover: Über der nachkolorierten Skyline der Stadt hängen
eine aufgeschnittene, überdimensionale Melone (und diverse Ameisen) am grauen Firmament.

Surrealer waren nur noch die drogeninduzierten Frühversuche von Pink Floyd (selbstverständlich noch mit dem wahnsinnig genialen bzw. genial wahnsinnigen Syd Barrett).

Ihre musikalische Liebe jedoch gilt einzig und allein den kunstvoll gestalteten Stromgitarren-Sounds der späten 1970er Jahre. Diese imitieren Rats on Rafts so gut, dass man meinen möchte, sie seien eine vergessene Truppe aus dem kreativen Dunstkreis solcher Stil-Ikonen wie The Fall oder Echo & The Bunnymen.

Bestärkt wird diese Vermutung durch die bewusst körnig gehaltenen und mit viel Hall versetzten Aufnahmen. Ganz so, als ob sie "The Moon Is Big" in einem alten Fabrikgebäude mit bescheidenem Equipment und in Windeseile eingespielt hätten.


Zudem reanimierten Rats On Rafts ein essentielles Instrument dieser Zeit: Das Saxofon.

Als treibende Kraft in "Patient" weckt sein Einsatz Erinnerungen an eine musikalische Ära, in der der röhrende Sound dieses Blasinstruments durchaus Revolution und Zeitenwende zu versprechen wusste. Auch auf "Sailor" tönt es markig-beendet, ähnlich wie in Grauzones "Eisbär": Das überfallartige Akkordgewitter mit verhallt-quietschigen Tönen.

Es ist überdeutlich: David, Arnoud, Joris und Florian wären sicherlich gerne einige Dekaden früher geboren, um die Entstehung dieser verrückten Subkultur hautnah miterleben zu können.

Ihre Musik fungiert aber nicht zum leblosen Mausoleum einer immer sich mehr entfernenden Zeit, in der alles besser schien. Vielmehr dominieren rabiater Witz und eine gepflegte "Fuck You"-Attitüde die neun Stücke von "The Moon Is Big".


So wird Nietzsches zentrale Erkenntnis vom Dahinscheiden des "Einen" hämisch grinsend wieder aufgegriffen: "God Is Dead", singen Rats On Rafts gemeinsam mit einem Kinderchor zu bewusst infantil gehaltenen Melodien – was zwangsläufig die Sittenwächter auf den Plan rufen musste: Als das raubeinige Quartett diesen Song in der holländischen Fernsehsendung "De Wereld Draait Door" zum Besten gaben, hagelte es nämlich kurze Zeit später Satanismus-Vorwürfe.

Womit Rats On Rafts ihr erklärtes Ziel erreicht haben dürften. Denn laut ihrer Facebook-Seite
interessiert sie nur eines: "Annoying The People".

Und wie kann man den braven Bürger besser ärgern, als mit rüpelhaftem Rock und provozierenden Texten?


Von mangelnder Instrumentbeherrschung jedenfalls ist hier nichts mehr zu hören. Vor allem das neuneinhalb-minütige "Jazz" lässt jeden
Zweifler verstummen: Auf einem schnellen Shuffle arbeitet sich die Band an gefälligem Gröhl-Punk ab, um am Ende in einem Meer von Rückkopplungen zu baden, während die Saiteninstrumente weiterhin gnadenlos bearbeitet werden, sodass sie jaulend, fiepend und ächzend um Gnade winseln – wie einst bei The Who und ihren zerstörerischen Schlusstakten von "My Generation".

Manche Dinge besitzen eben auch nach mehreren Jahrzehnten immer noch Durchschlagskraft.

Bleibt nur zu hoffen, dass Rats On Rafts ihre ungehemmte, rotzig-spaßige Spielfreude weiter beibehalten. Schließlich sollten mehrere Jahre Vorlaufzeit nicht einfach so verpuffen!


||TEXT: DANIEL DRESSLER  | DATUM: 26.02.15 |  KONTAKT |  WEITER: REVIEW MIND.IN.A.BOX "MEMORIES" >




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