MORRISSEY UND "EVERY DAY IS LIKE SUNDAY": VIVA HATE, BONJOUR TRISTESSE
Sonntagsspaziergang mal anders: Auf seinem 88‘er Post-Smiths-Debüt “Viva Hate” stapft Morrissey lustlos über Sand und Stein, verschickt statt altmodischer Flaschenpost doch lieber eine Postkarte und bekommt seinen Nachmittags-Tee nicht auf dem Silbertablett, sondern ganz undandyhaft in einer schmierigen Billig-Tasse serviert.
Herzlich willkommen in der Welt von “Everyday Is Like Sunday”.
Gemütlich rollen pastellige Gitarrenriffs vom Band und geben ein behagliches Klang-Panorama vor, in dem sich die handliche Komposition erst langsam entfalten muss. Wie ein günstiger Stadtplan im Vier-Farben-Druck, den der Hörer zufällig an einer Straßenecke entdeckt und mit nach Hause nimmt, um ihn im heimischen Ohrensessel dann doch nicht zu studieren, sondern als unbeachtetes Lesezeichen zwischen zwei Buchdeckel zu klappen. Bald regt sich, munter tapsend, ein spielfreudiges Schlagzeug und gibt Bewegung vor. Erst jetzt beginnt die Morrissey-Anekdote, in der Stimme und Text die freundlich arrangierte Gesamt-Atmosphäre stören und als säurehaltiger Gegenpol das Klang-Gemälde von innen heraus zersetzen. Harmloser Strandspaziergang? Beim Ex-Smiths-Chef absolute Fehlanzeige. Vier Strophen lang tastet sich der Sänger durch die überschaubare Szenerie eines kleinen Küstenortes und macht immer dort Station, wo die geneigte Urlaubs-Kamera zum Schnappschuss ansetzen würde.
Der Reigen beginnt an der ozeanischen Spülkante, wo Wasser und Sand, zur matschigen Melange vermengt, die Schritte des wackeren Wandersmannes bremsen. Durch die Augen des Protagonisten betrachtet, erscheint die Ferien-Landschaft in einem zynischen Licht: Da ist die nette Sitzbank, auf der man vor dem Badespaß einst seine Kleidung drapierte – um nach der Rückkehr aus den Fluten, Langfinger sei Dank, plötzlich ohne textiles Beiwerk dazustehen. Morrissey liebt das Spiel mit den Kontrasten, das er von Über-Dandy Oscar Wilde gelernt hat: “Every Day Is Like Sunday / Every Day Is Silent And Gray”. Wenn jeder Tag ein Sonntag wäre, würde sich so mancher Arbeitnehmer über die unverhoffte Ruhe freuen: Endlich ausschlafen, ausgedehnt frühstücken, mit klebrigen Marmeladen-Fingern in einer Zeitung blättern; am späten Nachmittag vielleicht das Auto waschen oder sich, in Fliegerseide gehüllt, vor die Mattscheibe bequemen. Für James Dean-Double Morrissey ein echtes Horror-Szenario, dem er in seinem klangfreudigen Song entsprechend lustlos nachspürt.
Bewegung ist in der geschmeidigen dreieinhalb-Minuten-Nummer rar gesäht - und bleibt auf langsames Dahin-Stapfen beschränkt. Umso übersichtlicher erscheinen die trostlosen Schauplätze, an denen der Sänger die engen Grenzen seiner Geisterstadt auslotet. Namentlich genannt sind Strand und Promenade, wo Kiosk und Selbstbedienungs-Café die fragwürdigen Highlights bilden. Mehr ist nicht in einer monotonen Einöde, die ihre letzte Hochsaison vor gefühlten Jahrzehnten erlebt hat oder tatsächlich noch nie so wirklich in Mode gekommen ist: “This Is The Coastal Town / That They Forgot To Close Down.” Lieblos aufgepinselt der sprachliche Zuckerguss, unter dem der kläglich wimmernde, in eine im Vorbeigehen gegriffene Postkarte geritzte Hilferuf des Erzählers beinahe verschwimmt: “How I Dearly Wish I Was Not Here.” Eine Botschaft ohne Empfänger.
Armageddon, Bomben-Alarm? Für Morrisseys morbid dümpelnde Küsten-Tristesse keine Katastrophe, sondern längst verdienter Gnadenschuss, den das beschwörende Endzeit-Gebet des sprachgewandten Musikers förmlich entgegensehnt: “Come, Come, Nuclear Bomb.” Bereitet der fatalistisch suizidale Abgesang dem Übel sein fälliges Ende? Für einen kostbaren Moment wird das Erhoffte tatsächlich greifbar. Als sich der Protagonist an der Wasserkante entlang zurück schleppt, fühlt er den seltsamen Staub-Schleier, der aus dem Nichts heraus erst seine Hände umspielt und ihn dann, völlig unvorbereitet, wie ein perfekt getakteter Faustschlag, mitten ins Gesicht trifft. Alles nur ein grausamer Streich der Elemente, die auf diese Art und Weise die natürliche Ordnung wiederherstellen. So gleitet die vermeintlich todbringende Sand-Böe stumm vorüber, erstickt erfolgreich den Keim des Aufbegehrens - und schickt den deprimierten Erzähler am Ende in die kraftlose Resignation. Eine unendliche Geschichte.
Zwar beugt sich der trübselige Barde seinem Schicksal, ergibt sich dem sturen Zeitenlauf jedoch nicht frei von Zynismus. Statt seinen Kummer über die Veränderungs-Resistenz der Küsten-Bastion in Hochprozentigem zu ertränken, schnappt sich Morrissey im schäbig schicken SB-Diner ein Plastik-Servierbrett und kredenzt dem Hörer sein letztes Abendmahl. Abwarten und Tee trinken: “Share Some Greased Tea With Me” lautet die hämische Ansage, mit der der Sänger das kulinarisch fragwürdige Aufguss-Getränk auf den Tisch des Hauses bringt. Dann verstummt das Individuum; der Grund-Tenor der (Instrumenten-)Gruppe drängt wieder ans Steuer und driftet schlussendlich mit vage dümpelndem Klangspiel in die offene See hinaus. Text versus Musik: Am Ende kann es nur einen Sieger geben.
|| TEXT: ANTJE BISSINGER // DATUM: 14.05.2014 ||
FOTO © ANTJE BISSINGER.
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