1/21: LEIZURE, SUNTRIGGER, WHISPERS IN THE SHADOW, VAINERZ, VLIMMER - NACHLESE TEIL I - UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR

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1/21: LEIZURE, SUNTRIGGER, WHISPERS IN THE SHADOW, VAINERZ, VLIMMER - NACHLESE TEIL I

Kling & Klang > KURZ ANGESPIELT > 2021

Angesichts der einschneidenden Eindrücke, die uns 2020 geliefert hat, sind auch die Hörgewohnheiten anders - oder besser ausgedrückt: intensiver - geworden. Man analysiert Werke zwar schon immer im Kontext gegenwärtiger Ereignisse. Doch was, wenn diese so übermächtig in das eigene Leben eingreifen?

Dann fangen Alben wie "Primal Hymns" der Kopenhagener Formation Leizure auf einmal ganz anders zu leuchten an. Nicht nur, weil das Debütalbum dem dystopischen Punk an der Schwelle zum New Wave, wie ihn dazumal The Ruts, The Clash und entfernt auch Nick Caves erste Karriere-Station The Birthday Party praktizierten, und darüber hinaus in seiner lärmenden Grandezza die legendären Swans eingedenkt, sondern weil die klangliche Hoffnungslosigkeit sicherlich vielen aus der Seele spricht. Die Welt ist aus den Fugen geraten, und Leizure liefert die klangliche Untermalung. Da schmecken selbst die besungenen "Cherry Kisses" bitter und muten wie eine reine Folter an. Den größten Zusammenbruch erleidet die Band bei "Dogs Will Bark", das wortwörtlich keinen Stein mehr auf den anderen lässt. Die Dreh- und Angelpunkte für diesen auditiven Furor lassen sich schnell ausmachen. Allen voran Sänger Zakarias Sanderson schreit, heult und geifert sich wie ein Wildgewordener durch die Kompositionen, die bei aller Schroffheit auch einen eleganten Anstrich besitzen. Dafür verantwortlich zeichnet zuförderst Arshia Kadkhodaei verantwortlich, der sich mit intensivem Saxofonspiel zwar in die heillos brutale Szenerie nahtlos einfügt, aber dennoch den Stücken eine sonderbare Film-Noir-Ästhetik schenkt. "Primal Hymns" macht seinem Namen alle Ehre, denn die archaische, "ursprüngliche" Kraft dieser, fürwahr hymnischen, neun Nummern ist unbestritten und wirkt wie ein langersehntes Mittel gegen die momentane, coronabedingte Lethargie in der Musik- und Kulturbranche.

In Zeiten wie diese scheinen die Blicke wohl nur zwei Richtungen zu kennen: wehmütig zurück oder hoffnungsvoll nach vorn. Suntrigger aus Münster indes haben bereits das große Ganze im Visier. Auf "Liquid Time" setzen sie ihre Reise durchs Weltall fort, die sie mit ihrem Debüt "Interstellar" in Angriff genommen haben. Die atemberaubende Unvorstellbarkeit der unendlichen Weiten sind aber nur Mittel zum philosophischen Zweck. Denn in ihren Stücken gerät das Weltall zur existentialistischen Metapher. Die Suche nach extraterrestrischem Leben ist eben auch jene nach Erkenntnisse und deren Ursprünge. Die Post-Rocker wählen für ihre tiefen Gedanken allerdings keine Worte, sondern bestellen mit ihren wuchtigen Gitarrenklängen, die von feinen elektronischen Linien durchzogen sind, das Feld der Gedankenspiele, auf dem sich der Hörer genüsslich verlustieren darf. Zu jedem Song im Booklet finden sich knappe Gedanken oder Zitate, die als reflektorische Initialzündungen dienen sollen. So wie bei "Voyager Golden Record", die Bezug auf die goldene Schallplatte nimmt, die von Wissenschaftlern an Bord der instellaren Raumsonden Voyager 1 und 2 angebracht worden sind, um Außerirdischen von uns zu berichten. Das beigefügte Zitat von Heinrich Karl Erben allerdings zeigt auch die Kritik, dass das Bild auf dem "Golden Record" wesentlich positiver sei, als es die Realität zulässt. Wie der Mensch im Spannungsfeld zwischen Anspruch und Wirklichkeit steht, so wechselt auch Suntrigger zwischen wuchtig-nachdenklichen und aggressiven Passagen und massiert zusätzlich die kleinen grauen Zellen aufs Vortrefflichste, was uns die momentane Situation für einen Moment vergessen macht.

Doch das Licht am Ende des Tunnels scheint heller zu leuchten, und irgendwann werden wir wieder Clubs, Festivals und Konzerte besuchen können. Und da sollte Whispers In The Shadow ganz oben auf der Prio-Liste stehen. Zumindest, wenn man sich mit klassisch geprägtem Goth-Rock, der sich selbst nicht so ernst nimmt, gut unterhalten fühlt. Denn darin zeigen sich Sänger Ashley Dayour und seine Mannen als sehr versiert. Ging es anfangs noch sehr post-punkig zur Sache, wurde mit jedem neuen Alben eine weitere Facette der Band sichtbar. Ihre teilweise wuchtig-psychedelischen Gitarrenspielereien titulierte die Presse nicht abschätzig als "Goth Floyd", in Anlehnung an die großen Pink Floyd. Und auch das zehnte Album "Yesterday Is Forever" sucht nach dem Besonderen im Gemeinen. Denn mit dem Eröffnungsstück "Forever 1985" lassen Whispiers In The Shadows nur kurzfristig einen nostalgischen Blick auf den Schwermuts-Rock zu, den sie aber auch in einem Atemzug kritisch hinterfragen. Spätestens bei "The Horror" wird deutlich: Die Band hat Humor. Wie einst Bauhaus arbeiten sie mit überzogenem, fast schon musicalhaften Elementen, um eine wohlige Schockatmosphäre zu kreieren. Mit jedem weiteren Song schafft es das Quintett, die "heilige Kuh" Gothic liebevoll durch den Kakao zu ziehen. Denn der ewige Blick zurück auf die vermeintlich bessere Zeit ist nicht der Weisheit letzter Schluss. Stillstand ist der Tod, deswegen bewegen sich Whispers In The Shadow bei "Yesterday Is Forever" ununterbrochen. Und das ist eine wahre Wohltat.

Sollte die pandemiebedingte Depression sich dann auch noch mit einem ausgewachsenen Winterblues paaren, bleibt nur noch der Rückzug in die Wohnraumdisco. Wohl dem, der einen Partykeller sein Eigen nennen kann. Denn dort würden die treibenden Electro-Beats der Vainerz bestimmt zur vollen Entfaltung kommen. Ihr skandinavisch eingefärbter Synthie-Pop ist melodienverliebt, punktgenau produziert und stets auf der Suche nach der einen Hookline, die sich durchs Trommelfell ins Gehör fräst und dort erst einmal verweilt. "Tendency" ist ihr drittes Album - und das merkt man ihnen an. Routiniert und mit dem Wissen aus mehreren Dekaden des Musikmachens (vor allem Rico F. Piller hat sich durch seine früheren Projekte D-Pressiv und P24 einen Namen machen können), gelingt dem Duo eine mehr als solide Platte, deren einziges Manko vielleicht ist, dass sie rund 15 Jahre zu spät auf den Markt erschienen ist. Denn der Future-Pop - oder auch abschätzig: Weiber-Electro - hätte zu jener Zeit, als Gruppen wie Apoptygma Berzerk, Colony 5 oder Culture Kultür für volle Tanzflächen in den Düster-Clubs sorgten, perfekt den Trend aufgefangen. Doch sollte das den Hörer nicht großartig mopsen. Genieße er daher einfach die Tatsache, dass Vainerz akkurate Musik produzieren, die in "Reality", "World From Above" und "Pretend" den höchsten Tanzfaktor besitzen und all jenen, die sich mit Wehmut an die frühen 00er-Jahre zurückerinnern, mit Sicherheit ein zartes Lächeln ins Gesicht zaubern werden.

Den ultimativen Eskapismus für das verflossene Jahr liefert aber sicherlich Vlimmer mit ihrem Fünf-Stück-Albtraum "XIIIIIIII" ab. Gleichzeitig bildet diese Veröffentlichung den Schlusspunkt einer 18(!)-teiligen EP-Reihe, in der das Projekt, das mindestens so nebulös anmutet wie der Cold Wave, den sie aufspielen, die Geschichte "Jagmoor Cynewulf - Über die Unüberwindbarkeit des Schwebens" zu Ende erzählen. Das Buch erscheint parallel zur Veröffentlichung und bildet ein kleines multimediales Spektakel, das Vlimmer als wohl durchdachtes Kunstwerk darstellt, in dem die Musik nur einen Teil im gesamten Gefüge darstellt. Natürlich funktionieren die fünf deutschsprachigen Stücke aber auch für sich, und gerade "Mängelexemplar" und "Vorwehen" besitzen bei aller Cure-ness, das sicherlich auch am Sänger Alexander Donat liegt, dessen Timbre stark an Robert Smith erinnert, eine klar eigene künstlerische Handschrift. Gerade "Kern", ein zehnminütiges Monster von einem Song, bricht mit dem vorher stimmungsvoll aufgebauten, attraktiv eingängigen Post-Punk-Degustationen. Hier fällt final alles in sich zusammen und es scheint so, als sei auch Vlimmer nach diesem auditiven Marathon, der 2015 seinen Anfang genommen hat, schlussendlich zu ihrem eigenen stlistischen "Kern" angekommen. Der Autor dieser Zeilen wird sich erst einmal damit begnügen, die restlichen 17 anderen EPs für sich zu entdecken. Zeit ist ja genügend vorhanden - dank Lockdown.

||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 11.01.2021 | KONTAKT | WEITER: KURZ ANGESPIELT 14/20>

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Webseiten:
leizure.bandcamp.com
www.suntrigger.de
www.whispersintheshadow.com
www.vainerz.com
www.facebook.com/VlimmerMusic

Covers © Five Foot One Records (Leizure), Timezone (Suntrigger), Solar Lodge/Al!ve (Whispers In the Shadow), RGK/BelieveDigital (Vainerz), Blackjack Illuminist Records (Vlimmer)

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