BLESSED CHILD OPERA "RED FLAGS" VS. LISA HARRES "TIME AS A FRAME": TIEFER, IMMER TIEFER! - UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR

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BLESSED CHILD OPERA "RED FLAGS" VS. LISA HARRES "TIME AS A FRAME": TIEFER, IMMER TIEFER!

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Sechs Jahre lang hat sich Musiker Paolo Messere mit seinem Projekt Blessed Child Opera nicht mehr blicken lassen. Doch untätig war er nicht. Nach dem barocken Doppelalbum "Love Songs/Complications" widmete sich der Sizilianer anderen Vorhaben. Unter dem Moniker Ostara's Bless brachte er "Masculine/Feminine" 2021 auf den Markt. Sein Faible für elektronische Musik lebte er mit seinem nächsten Unterfangen The Big Self aus. Anscheinend ist Messeres Kreativität unerschöpflich. Doch sind Ausflüge in andere Genre nicht nur reiner Selbstzweck, sondern dienen für einige Künstler als willkommene Auszeit. Man erinnere sich beispielsweise an die Solo-Werke von Dave Gahan und Martin Gore. Beide empfanden es als absolut erforderlich, eigene Wege zu beschreiten, um das Fortleben von Depeche Mode zu sichern.

So dramatisch wird es bei Blessed Child Opera wohl nicht gewesen sein. Doch es ist gut denkbar, dass Paolo einfach etwas Abstand von seinem Hauptprojekt gewinnen wollte, um es nach einer Pause mit anderen Augen zu betrachten und neue Facetten zu entdecken. Zumindest wirkt "Red Flag" wie ein Album, in dem sich ein neues Bewusstsein des Künstlers breitmacht.

Zunächst will uns "Love Codex" aber auf eine falsche Fährte locken. Das aus kaskadenartig arrangierten Streichern bestehende Stück lässt vermuten, dass "Opera" im Bandnamen ab jetzt fett angestrichen wird und der Mann sich auf rein klassischen Wegen bewegt. Doch war es nur eine Finte; mit "He's Living A War Alone" zeigt der Mann seine großen Talente. Diese bestehen durch einen mystisch-charismatischen Gesang, den er mit cineastischem Dunkelrock mit psychedelischem Einschlag und orientalischer Note kreuzt.

"Red Flags" verändert mit fortschreitender Dauer seine Atmosphäre: Sind Stücke wie "Always Alone (You Remain)" oder "Oblivion" deutlich vom Rock beeinflusst (möchte man Vergleiche ziehen, wäre The Beauty Of Gemina ein guter Anhaltspunkt, allen voran, was die rätselhafte Aura der Songs angeht), wird ab "Old Stains" und "Trembling Stars" der Einfluss des Orients in den Kompositionen immer markanter. "You Can Relate To Joy Without Feeling Guilty" bringt dabei wie kein zweites Lied Messeres Idee eines musikalischen Clash Of Cultures näher. Der Song ist eine Musik gewordene Gothic Fata Morgana. Betörend umkreisen die exotischen Klänge den Sänger, bis sie ihn fast schon zu verschlucken drohen, ehe er im Refrain sich freikämpft und besonders hell erstrahlt.

Mit "Red Flags" meldet sich Blessed Child Opera eindrucksvoll zurück; die Pause hat dem Musiker auf jeden Fall gut getan. Das Album kann man jetzt schon zu einen der Highlights in diesem Jahr bezeichnen.

Und wenn wir schon dabei sind, großzügig mit Auszeichnung um uns zu werfen, darf auch Lisa Harres' Werk "Time As A Frame" als großes Tennis bezeichnet werden. Hier dekliniert Lisa die Frage nach Beziehungen, Nähe und Abhängigkeiten auf eine hochgradig künstlerische Weise durch. Es wäre vielleicht übertrieben zu sagen, dass man von ihr so ein Album erwartet hätte. Aber ihre Vita zeigt, dass sie sich der Kunst komplett verschrieben hat.

Musikerin, Lyrikerin, Filmemacherin: Bei Lisa wird alles künstlerisch durchdrungen und auf verschiedene Art und Weise sicht- und hörbar gemacht. Dass es dabei nicht ausreicht, sich auf profane Popkonstruktionen zu verlassen, sondern in einen klassisch angehauchten Kammer-Sound abzudriften, ist fast schon die logische Konsequenz daraus. Denn auch Harres' kraftvolles und gleichzeitig der Welt entrücktes Organ passt perfekt zur wunderbaren Melange aus Klavier, Gitarre und Bläsern. Wenn sie dann in "Melted Being" und "Pairs" mit leichtem Vibrato ins Mikro singt, könnte man sogar Parallelen zu Kate Bush ziehen. Dass die gebürtige Darmstädterin in Berlin die Nähe zu anderen exaltierten Persönlichkeiten wie Finn Ronsdorf oder Jungstötter (bevor er ein Häuschen weiter zog) sucht, verwundert in diesem Zusammenhang auch nicht weiter.

In ihren größten Momenten ist Lisa aber ganz auf sich selbst zurückgeworfen. "Green Bedsheet Gown" mag da exemplarisch für die einzigartige Magie, die von ihren Songs ausgeht, sein. Ein fließendes Yann-Tiersen-Piano begleitet die Musikerin, die mit ihrem ganzen Körper in die Musik eintaucht, geradezu ein Teil von ihr wird und dabei den bewegenden Text über Kindheit und den Übergang ins Erwachsenwerden vorträgt. Apropos Kinder: Im Interludium "Musik für die Kinder" hören wir eine verspielte, kindliche Lisa, die ihre Cousins, Cousinen und Geschwister singen lässt - frei von Metrik oder Tontreffsicherheit, sondern wie es gerade das kindliche Herz befiehlt. Liebevoller kann ein Blick auf die Kindheit nicht sein.

Wie schwer mutet dagegen das Erwachsensein mit all seinen Fallstricken an? "Mein Herz" bringt es dabei auf den Punkt, indem das Lied die Diskrepanz zwischen Nähe und Unabhängigkeit, die ständiger Prüfstein einer Beziehung ist, aufzeigt: Wieviel Nähe und Zweisamkeit ist gut? Und ab wann wird sie toxisch? Beziehungsweise: Ab wann beginnt die Selbstaufgabe? Lisa Harres behandelt diese Fragen nicht explizit, sondern gibt uns durch ihre assoziativen Texte lediglich einen Denkanstoß.

Wenn das Leben einen über Gebühr herausfordert, wenn sich die großen Probleme, Ängste und Zweifel nur noch schwer bewerkstelligen lassen, kann "Time As A Frame" zumindest für kurzzeitige Linderung sorgen. So sehr wie Lisa Harres ganz bei sich während der Aufnahmen war, so sehr können auch die Hörerinnen und Hörer an die eigene Seele andocken und in sie hineinhorchen. Denn das ist wichtiger als alles andere.

||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 25.03.25 | KONTAKT | WEITER: MESSER VS. BUNTSPECHT>

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