KONTRAST "UNAUFHALTSAM": AUF DER STRASSE ZUR PERFEKTION
Ist es eine gehörige Portion Chuzpe, die sich mit dem Älterwerden anhäuft? Oder einfach nur der offenkundige Wunsch, dem gängigen Klischee und von außen angepassten Korsett zu entfliehen? "Unaufhaltsam" jedenfalls ist ein Album, das Kontrast-Fans befriedigen wird, obwohl, oder gerade weil es wieder ein bisschen anders ist als die vier Werke davor, und sowieso "outstanding" für eine Gruppe, die in der Gruftie-Szene seine größte Anhängerschaft besitzt.
Natürlich sind sie als Erfinder des "Einheitsschritts" ohnehin schon in die Annalen der bundesdeutschen Gothic-Historie eingeschrieben als eine der ersten Gruppen, die es sich erlaubt haben, der Szene etwas völlig artfremdes zu präsentieren: Selbstironie. Auch der weltabgewandteste Melancholiker darf zumindest mal lächeln über seine eigenen Klischees - und wenn es nur im eigenen, verdunkelten Kämmerlein mit umgedrehten Kreuz und Sarg als Schlafstätte ist.
Doch Roberto Lindner und seine Mitstreiter (und Mitstreiterin) wussten schon alsbald, dass es nicht abendfüllend sein wird, den Schwarzkittelträger ohne Unterlass durch den Kakao zu ziehen. Zwar brachte das Zweitwerk "Industrie<>Romantik" von 2004 noch einige Seitenhiebe auf die Kommerzialisierung der Gruftie-Gesellschaft (herrlich: "Nr. 1 in der Hölle"), doch zeichnete sich schon dort ab, dass dieses Feld bereits bestellt ist und der kontrastreiche Weg eine neue Biegung nehmen muss.
Zukünftig fand das Thema Schwarz-Satire zwar noch als tönernes Schmankerl zwischen den Stücken statt, "Vision und Tradition" (2008) öffnete sich aber bereits in eine neue, wenngleich noch etwas diffuse Richtung. Man könnte dieses Album als Übergang zu einer Neudefintion der Kunst von Kontrast bewerten, quasi der Beginn einer Metamorphose, die mit dem 2014er Album "Balance" abgeschlossen wurde.
Fünf Jahre später nun sind sie "Unaufhaltsam", und der Titel hätte nicht besser gewählt sein können. Immerhin kommen sie mit dieser Platte ihrer Vision von Verschmelzung aus Klang und Wort gefühlt wieder ein Stück näher. Der ehemals spröde Humor und satirische Blick auf die Schwarze Szene fällt dieses Mal im Lied "Nachtclub" (ein Quasi-Remake eines Stückes von der befreundeten Band Uselesssense) eher denzent aus; eine Selbstreferenz auf ihren bekanntesten Clubhit haben sie sich dann doch erlaubt. Das geschieht aber nicht aus Selbstherrlichkeit, sondern eher als running gag, wurde der "Einheitsschritt" auch schon bei "Balance" in einem Stück zitiert. So ganz ohne ihn geht es dann doch nicht.
Wie bewusst anders Kontrast aber mittlerweile vorgehen, ist an der Vorabauskopplung "John Schehr und Genossen" gut festzumachen: Das Gedicht des Schriftstellers Erich Weinert beschreibt die wahre Geschichte der Hinrichtung des KPD-Vorsitzenden John Schehr durch Nazi-Schergen. Ein bedrückendes Thema, das der eine oder andere in ein mollschwangeres Moritat gegossen hätte. Nicht aber Kontrast: Sie machen aus dieser Geschichte einen Hochgschwindigkeits-Krimi; fette Beats und fiebrige Synthielinien unterstreichen die Hektik der Aktion. Wenn gegen Ende zwölfmal ein Gewehrschuss ertönt (jeweils drei Kugeln ins Genick für John Schehr und seine Komplizen), dann gefriert bei aller Tanzbarkeit jedem fühlenden Menschen das Blut in den Adern.
Diese Nummer birgt also in vielerlei Hinischt Fallstricke. Ein politisches Gedicht als Fundament für einen veritablen Club-Stampfer auszuwählen kann im schlimmsten Fall zu verkopft und sperrig werden. Doch gelingt dem Quartett dieser Spagat durch die spannende Inszenierung des Ereignisses. Pars pro toto steht "John Schehr und Genossen" für Kontrasts Liebe nach Geschichte und Geschichten. Diese handeln sie aber nicht mehr nur in einem Stück ab, sondern verteilen sie auf mehrere Songs und setzen sie gleichzeitig in Szenen mit "Lost Places"-Charakter.
So entspinnt sich in der aktuellen Single "Plänterwald" eine treibende Mörderballade, quasi ein Cave'sches "Where The Wild Roses Grow" für Synth-Pop-Orchestrierung, allerdings mit der Frau als Täterin und vor der Kulisse des - mittlerweile stillgelegten - Freizeitparks im Berliner Plänterwald-Viertel. Dort wird im Epilog "So kalt" die mittlerweile verweste Leiche geborgen und obduziert. Die Ergebnisse trägt übrigens Dr. Mark Benecke, der Popstar unter den Forensikern, vor.
Das große Finale auf "Unaufhaltsam" thematisiert den Reaktorunfall in Tschernobyl von vor 33 Jahren. Auch hier fokussiert sich die Formation nicht auf die Explosion, sondern wendet einen erzählerischen Trick an. Sie blicken auf das "Hotel Polissya", einer monumentalen Herberge in der an das Kraftwerk angrenzenden Stadt Pripyat. Im Festsaal sitzt ein Mann mit einem Cognac in der Hand. Alle anderen haben panisch das Hotel verlassen, als sie von der Explosion gehört haben. Der Protagonist jedoch weiß, dass er der nuklearen Wolke nicht entkommen kann und sinniert todessehnsüchtig über friedliche Kernnutzung und der traurigen Tatsache, dass der neu angelegte Vergnügungspark nicht mehr in Betrieb genommen werden kann (die Überreste dieser geplanten Freizeitstätte existieren übrigens immer noch - wie auch das Hotel Polissya - als Ruine in der Geisterstadt Pripyat). In dandyhafter Atmosphäre mit leicht swingendem Habitus und ultracoolen Saxofonparts nimmt diese Nummer dem Reaktorunfall den hysterischen Moment, ist in seiner fatalistischen Attitüde aber um ein vielfaches intensiver in seiner Grausamkeit.
"Der Sarkopharg" beleuchtet folgend unter vermeintlich anheimelnden Sequenzen inklusive Geigerzählergeräusche und Nachrichtensamples jene armen Schweine, die nach dem Unfall auf den Reaktor die Aufräumarbeiten leisten mussten und damit in ihren sicheren Tod geschickt worden sind. "Du strahltest, doch Du lachtest nicht" ist die vielleicht bitterste Zeile, die die damalige Vertuschungstaktik der ehemaligen Sowjetunion auf seine Quintessenz eindampft. Das abschließende Instrumental "Im Abendrot" repräsentiert die trügerische, pseudo-romantische Stille eines für die Menschheit verlorenen Fleckchens Erde, verursacht durch eigenes Verschulden.
Nachdenkliche Momente, verpackt in ansprechender Lyrik und erfrischend unkonfektionierter Synthesizer-Popmusik: Kontrast zeigen sich einmal mehr als intelligente Ausnahmeerscheinung im Gothic-Einerlei. Oder um das Eröffnungsstück "Unverwundbar" zu zitieren: Mit rascher Geschwindigkeit befahren sie die "Straße zur Perfektion".
||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 17.06.2019 | KONTAKT | WEITER: VARIOUS ARTISTS "ELECTRICAL LANGUAGE">
Webseite:
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