7/16 EAGULLS, LIKE ELEPHANTS, THE BEAUTY OF GEMINA, WENDY BEVAN, BANTAM LYONS: AUS DER GESCHICHTE GELERNT - UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR

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7/16 EAGULLS, LIKE ELEPHANTS, THE BEAUTY OF GEMINA, WENDY BEVAN, BANTAM LYONS: AUS DER GESCHICHTE GELERNT

Kling & Klang > KURZ ANGESPIELT > 2016

Das populärmusikalische Rad neu zu erfinden, wird scheinbar mit jedem neuen Jahrzehnt zu einer immer unlösbareren Aufgabe. Zumindest zeigen aktuelle Chartplatzierungen nicht mal mehr den Hauch von leidenschaftlicher Innovation. Trotzdem, oder gerade deswegen, ist der Blick oft rückwärtsgewandt. Im Versuch, klassische Architekturen und Rezepturen der Popgeschichte zu konservieren, steckt natürlich auch der Wunsch nach neuem Aufbruch und Revolution, wie es diese Genres zu Beginn ihres Bestehens einst versprachen. Prinzipiell spricht ja auch nichts dagegen, sich auf alte Meister zu berufen. Dennoch sollte dies mit einem gewissen Esprit, Witz und einem Mindestmaß an Eigenständigkeit geschehen. Bloßes kunstfreies Runterbeten gängiger Schemata ermüdet nur all zu schnell.

Die Eagulls aus dem britischen Leeds haben für dieses Dilemma einige Lösungsansätze parat. Auf "Ullages" huldigen sie mit ihren verwaschenen Gitarren-Songs vordergründig dem klassischen Wave, während Sänger George Mitchell seine ohnehin schon hohe Stimme wie einst Morrissey gerne emotional überschlagen lässt. Das zweite Album der Gruppe dürfte den bereits gewonnenen Fan überraschen, da er sich doch deutlich von dem lauten, selbst betitelten Debüt unterscheidet. Dort dominierten noch punkig-rotzige Akkorde, gepaart mit einer ungemeinen Wut im Bauch. Doch anstatt die "hoppla, hier kommen wir"- Attitüde ein weiteres Mal zu bemühen, geht "Ullages" in eine ganz andere, introvertierte Richtung. Der erste Qualm hat sich verzogen; nun beginnt das aufräumen und nachdenken. Zwar zeigen Stücke wie "Blume" (nicht das deutsche Wort!), dass immer noch eine gewaltige Energie bei den Eagulls vorhanden ist; sie wird aber durch die verhallten Klangräume weich abgefedert und schmeicheln des Hörers Ohr, allen voran in "Skipping" und "Aisles" erzeugen die ätherischen Saitenbearbeitungen ein Soundbett, in das man sich nur allzugerne fallen lässt. Eagulls geht es um die Freude an der Traurigkeit, um das genüssliche Auskosten eines beschissenen Moments. Dies und die starke Hinwendung zur Gitarrenmusik der frühen 1980er bilden die Verbindungslinien zwischen den beiden doch so unterschiedlichen Alben der Engländer. Man hat zwar das Gefühl, dass sich das Quintett intensiv mit dem Album "Disintegration" von The Cure beschäftigt, sich aber dennoch genügend eigene Gedanken dazu gemacht hat. In keinem Moment entsteht das unangenehme Gefühl, einem bemühten Plagiat seine Zeit zu widmen. Dafür sind ihre Arrangements und Ideen einfach zu selbstbestimmt, um sie als farblose Kopie abzutun.

Auch bei Like Elephants wäre derjenige ein Schuft, der böses denkt, wenn er sich das Debüt "Oneironaut" einverleibt. Extrem verträumt geht es bei den Österreichern ebenfalls zu, allerdings lebt die Band aus dem beschaulichen Grieskirchen ihre Liebe für simple Popmelodien, die sie mit jeder Menge Hall-Effekten unterlegen, derart radikal und stringent aus, dass sie eine sehr geniale Weiterführung dessen ist, was beispielsweise Gruppen wie Washed Out oder The Pains Of Being Pure At Heart bereits zu formulieren versuchten. Hört man sich "Red Socks Penguin" an, wird die Idee bei Like Elephants schnell klar: Solche Stücke würden auch mit trockenen Beats und geradlinigen Gitarren funktionieren – als gut gelaunter Inide-Pop-Song, der aber vielleicht zu beliebig klänge. Der massive Effekteinsatz bei Gesang und Musik bewirkt einen surrealen, träumerischen Effekt und verortet das Stück in einen ganz eigenen Kosmos. Like Elephants balancieren ihre Kompositionen zwischen Traumwelt und Realität aus, sodass "Oneironaut" wie eine Seifenblase durch die Luft schwebt: schwer greifbar, aber voller Anmut und Zerbrechlichkeit. Ja, es ist Dream Pop. Und ja, sie könnten eine weitere Gruppe des renommierten 4AD-Labels sein. Aber am Ende des Tages ist es dann egal, wie sehr sich (Pop)Geschichte wiederholt. Man möchte einfach mit den Echo-Gitarrenn, den sanft anschiebenden Basslinien und dem leicht verklärten Gesang diese Halbschlaf-Welt nicht mehr verlassen. Doch auch Like Elephants wissen, dass ein Ende unumgänglich. Und schöner als mit einem sanften "Wake Up" können uns die Musiker nicht in die Realität entlassen.

Wo ein Ende, da ein Anfang. Wenigstens ist dies bei The Beauty Of Gemina aus der Schweiz so. Ihr neuestes Werk "Minor Sun" beginnt mit "End", einem Stück, das sich mit der Frage beschäftigt, was im Moment des Sterbens (buchstäblich und metaphorisch) geschieht. All das packen die elektronisch aufgeladenen Grüftli-Rocker in treibend-minimale Akkorde, gespickt mit ätherisch-psychedelischen Gitarrenparts. Michael Seles markant-kühler Gesang unterstreicht die eisige Stimmung, die sich durch das ganze Album zieht - bis hin zur Optik der Platte. Denn bei TBOG ist weiß das neue schwarz. So ziert der Sänger das klinisch reine Cover gerade so, als ob hier ein Foto eines Leichnams in der Obduktionshalle geschossen wurde. Der schockgefrostete Sound auf "Minor Sun" ist das Ergebnis einer Reise, die vor zehn Jahren mit dem beeindruckenden "Diary of A Lost" begann. Damals noch etwas poltrig wie bei "Shadow Dancer", verfeinerten sie ihr Musikbild zu einer Melange, die schwelgerische Gitarren genauso einbeziehen wie computerbasierte Rhythmen. Damit sind sie einerseits den großen Helden der Szene, namentlich Sisters Of Mercy oder The Mission, auf ihren Spuren, wagen aber auch mal den kleinen Weg abseits der ausgetrampelten Pfade. So überraschen sie bei "Endless Time To See" mit einem sehr stringenten Synthesizer-Basslauf, der dem Stück eine unglaubliche Strenge verleiht. Nur, um beim darauffolgenden "Close To The Fire" völlig organisch zu klingen. Schubladendenken ist der Gruppe fremd; deswegen passen sie auch in so viele. In erster Linie aber – und das ist die wichtigste Erkenntnis – bringen sie mit ihrem lässig aufgespielten Sound das Gothic-Rock-Genre eine deutliche Ecke weiter, weil sie es für die Gegenwart gehaltvoll und gelungen interpretieren.

Nun neigt der gemeine Musikjournalist gerne dazu, Musiker als direkte Nachfolge stilprägender Acts hochzujubeln, sobald auch nur ein Fünkchen Talent in ihnen wohnen. Auch Wendy Bevan bekam nach ihren ersten Veröffentlichungen gleich die dunkle Krone verpasst: Als neue Siouxsie Sioux auserkoren, erhoffen viele wohl, dass die Frontfrau von Temper Temper auf ihren Solo-Pfaden die alten Gothic-Fassaden einreißen und aus den herumfliegenden Teilen ihr eigenes Bauwerk erschaffen würde. Was allerdings wirklich für Wendy spricht, ist ihre künstlerische Vielseitigkeit: Sie singt nicht nur, sondern fotografiert für angesehene Magazine, veranstaltet Vernissagen und arbeitet mit verschiedenen Theatercompagnien zusammen – ganz im Stile der alten Wave-Damen, die sich ebenfalls auf vielen Feldern betätigten. Und nicht zuletzt ist auch ihr Debüt "Rose & Thorn" eine gelungene Verbeugung vor dem klassische Cold Wave: pluckernde Analog-Snthesizer, allen voran der intensive Gebrauch des Jupiter 8, lassen dieses Album wie aus der Zeit gefallen klingen. Die Gegenwart verleugnet es jedoch nicht. Denn während Musikerinnen der ersten Stunde ihre weibliche Selbstbestimmung feierten, verhält sich die Sachlage anno 2016 doch ein wenig anders. Die Frau von heute untersteht einem komplexen Gesellschaftsbild. Die Frage nach weiblicher Identität durchzieht demnach auch so gut wie jedes ihrer 13 Stücke. Doch bei aller dunklen Leidenschaftlichkeit weiß Wendy Bevan auch zu überrachen. Wie beim fluffigen Synthie-Pop-Gehörgangkitzler "Love From The Moon", das auch aus der Feder von Marsheaux hätte stammen können. Bis das darauffolgende Suicide-Soundalike "Bad Manners" deutlich macht, dass es sich nur um einen kurzen Lichtschweif gehandelt hat. "Rose & Thorn" vereint musikalische Nostalgie mit modernem feministischen Gedankengut und bringt tatsächlich eine gelungene Weiterführung dessen, was Siouxsie & The Banshees einst begonnen haben, auf den Markt. Das einzig traurige daran: Wendy Bevan ist eine derart anspruchsvolle Künstlerin, dass sie fast gar nicht mehr in das verwässerte Spaß-Grufti-Bild von heute passt und für das Szenevolk gar zu intelligent sein könnte. Es wäre nicht verwunderlich, wenn viele, angeblich so schwarze Seelen, mit diesem durch und durch schwarzen Album nichts anfangen können. Aber die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.

Weniger Sorgen muss man sich da bei den französischen Bantam Lyons machen. Denn die Bretonen haben einen ganz klaren Plan: Sie wollen ihren jubilierenden Post-Punk nicht nur der hoffnungslosen Romantik und seelischen Selbstdiagnose opfern, sondern schielen immer wieder auf die spaßerfüllten Momente, die im Wörtchen "Punk" stecken. Denn ihr Debüt "Melatonin Spree" beginnt in einer alkoholschwangeren Morgendämmerung: "Away From The Bar" verortet den Protagonisten nach einem exzessiven Kneipenbesuch und beschreibt in assoziativer Weise und unter rollenden Rhythmen sowie wuschigen Gitarren die Folgen dieser durchzechten Nacht. In diesem Stück wird bereits das Konzept der Bantam Lyons klar: Ihr dynamisches Spiel beginnt zumeist domestiziert, ja geradezu lieblich-harmlos, um am Ende mit voller Wucht auszubrechen und sich, begleitet von turmhohen Soundwänden, überlebensgroß vor den Hörern zu postieren. Wie bei "Beds", das, dem Titel gleich, ein wenig somnambul loslegt, ehe ein wattsattes Gitarrenfeuerwerk entzündet wird. Darüber entfaltet Sänger Loïc Le Cam seinen sattelfesten Bariton-Gesang, der in den tieferen Lagen bei "Deft Hands" Ian Curtis zuzuzwinkern scheint. In den Momenten des Ausbruchs lässt er sein alertes Organ dann aber wunderbar überschlagen und kommt somit in die Nähe von Gruppen wie den Editors oder White Lies. Mit gerade mal sieben Liedern bleibt "Melatonin Spree" zwar ein recht kurzes Vergnügen; für die Gruppe selbst bildet dieser Erstling aber einen gelungenen Startpunkt, von dem sich Bantam Lyons sicherlich sehr gut weiterentwickeln werden. Sie haben aus der Geschichte gelernt. Vielleicht machen sie es nicht besser, aber zumindest anders.

||TEXT: DANIEL DRESSLER |DATUM: 10.09.16 | KONTAKT | WEITER: INTERVIEW MIT DECENCE >


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Webseiten:
www.eagulls.co.uk
www.likeelephantsmusic.bandpage.com
www.thebeautyofgemina.com
www.wendy-bevan.com
www.bantamlyons.com


Cover © Partisan Records/Knitting Factory Records (Eagulls), Noise Appeal Records (Like Elephants), TBOG Music/Al!ve (The Beauty Of Gemina), Kwaidan Records (Wendy Bevan), Kshantu Records/Autre Distribution (Bantam Lyons)

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