1/19: "COME JOIN MY ORCHESTRA", "THIRD NOISE PRINCIPLE", "GRENZWELLEN DREI", "MINIMUM VIABLE PRODUCT": VON BAROCK BIS ROCKBAR
Der Begriff "Indie" manifestierte sich in den frühen 80ern. Doch auch schon die Jahrzehnte davor waren durchzogen von musikalischen wie künstlerischen Strömungen, die sich bewusst gegen den vorherrschenden Kommerz richteten - bis sie schließlich dann doch vom Mainstream assimiliert wurden.
Interessanterweise verhielt es sich bei dem Genre des Baroque-Pop (oder Baroque-Rock, je nach Auslegung) genau umgekehrt. Als Startpunkt dieses Genres, das psychedelische Rock und Singer/Songwriter-Elemente mit Klassik vorwiegend aus dem Barock vermengt, gilt "Eleanor Rigby" von den Beatles. Die bekannteste Nummer ist aber "A Whiter Shade Of Pale" von Procol Harum. Im Schatten dieses Klassikers formierten sich viele interessante Bands, die nun auf dem Drei CDs umfassenden "Come Join My Orchestra - The British Baroque Pop Sound 1967-73" auf ihre Wiederentdeckung warten. Wieder einmal von Cherry Red aufs Vortrefflichste zusammengestellt, versprüht der Sampler eine hippieeske Stimmung, wirkt an manchen Stellen aber auch extrem melancholisch - besonders bei Bill Fays "Doris Come Today", einem unveröffentlichten Demo, das durch die körnige Qualität noch ein bisschen weltabgewandter klingt. Anhand der zusammengetragenen Infos im Booklet spürt man den Anfängen großer Karrieren nach, die in dieser Zeit angefangen haben. Da gibt es beispielsweise das etwas schmunzelnde "He's Very Good With His Hands" von Barry Booth & His Orchstra. Zu diesem Orchester zählen unter anderem Michael Palin und Terry Jones, die kurze Zeit später als Ulkschreiber bei Monty Python Comedy-Geschichte machen würden. Hinter der Formation Stackridge wiederum, hier mit "Everyman" vertreten, verbergen sich einige Musiker, die rund 15 Jahre später als The Korgis mit dem Schmachtfetzen "Everybody's Got To Learn Sometimes" Erfolge feiern sollten. Und bei "Rig Rag" von den Humblebums ist Gary Rafferty zu hören, dessen "Baker Street" einige Jahre später das Saxofon popkompatibel machen würde. Procol Harum sind bei "Come Join My Orchestra" auch vertreten. Allerdings mit "Luskus Delph", einer verschwenderischen B-Seite, das sogar mit kompletten Orchester aufgenommen wurde. Danach war es nur noch eine Frage der Zeit, bis Bands wie Electric Light Orchestra die Ideen dieses Genre in wohlgefällige Pop-Monstranzen transformieren sollten. So naiv und gleichzeitig beseelt sind diese Songs aber nie wieder geworden.
Und noch einmal Cherry Red: Ihr Faible für verschrobene Experimental-Elektronik aus ihren Anfangstagen haben sie bereits mit den Kompendien "Close To The Noise Floor - Formative UK Electronica 1975-1984" und dem Nachfolger "Noise Reduction System - Formative European Electronica 1974-1984" europaweit abgehandelt. In letzter Konsequent muss natürlich der Sprung über den großen Teich erfolgen, was mit "Third Nois Principle - Formative North American Electronica 1975-1984" geschehen ist. Denn auch in Amerika ist man schnell auf den Trichter gekommen, mittels neuer und bezahlbarer Elektronik (sowie teilweise kompletter Ahnungslosigkeit von der Materie) die bestehenden Hörgewohnheiten aufzubrechen. Schließlich war der Kontinent in Zeiten unnachgiebigen Zwistes mit der UdSSR nicht immer der beliebteste "place to be". So scheinen die Songs und Klangcollagen immer auch den atomaren Ernstfall miteinzubeziehen. Krude Pastichearbeiten wie "Dancing Hairpeace Wears Two Left Shoes" der Gruppe Smegma vermitteln eine Auflösung alter Beständigkeiten. Holprige Zusammenführungen verschiedener Synthesizer-Parts wie bei "Max Pale Red" von CYRNAI offenbaren einen vorherrschenden DIY-Charakter, der im Midi- und Sampling-Zeitalter komplett verlorengegangen ist. Dagegen repräsentieren Philip Glass und Terry Riley mit ihren Beiträgen, dass elektronisch generierte Musik hochkulturelle Züge annehmen kann. Minimal Music nennt es sich, zeigt sich aber nicht weniger experimentier- und revolutionsfreudig wie all die anderen Garagen- und Heimbands. Einige von denen haben es zu größerer Bekanntheit gebracht: Tuxedomoon, Psyche, Suicide, Ministry - auch sie sind auf "Third Noise Principle" vertreten. Doch spannender sind tatsächlich jene Schätze, die entweder nur im Eigenvertrieb auf Kassette oder gar nicht erst veröffentlicht worden sind. Sie komplettieren das Bild einer lebendigen Elektronik-Szene, die sich zwischen künstlerischer Avantgarde, post-industrieller Endzeitstimmung, aber auch popaffinen Tanzsound bewegt. Selbst wenn es nur als kurze Unterbrechung reicht, wie es der Titel "Intermission: Pop" von Lon C. Diehl uns klarmachen möchte.
Was ist von dieser aufregenden Zeit geblieben? Sicherlich nicht mehr die abenteuerlichen Aufnahme- und Synchronisationstechniken. Wohl aber sind viele Musiker immer noch bestrebt, Neues und Unerhörtes zu produzieren. Zugegeben ein immer schwieriges Unterfangen. Doch es gibt diese Musiker - und es gibt einen Mann, der sie uns näher bringt: Ecki Stieg. Seines Zeichens ein wahrer Klangconnaisseur, ist er mit seiner wiederbelebten, kultig verehrten Radiosendung "Grenzwellen" auf den Suche nach neuen tonalen Räumen. Dass er sie regelmäßig findet, belegen nicht zuletzt seine gleichnamigen Sampler, die er via Internet veröffentlicht. Mit über 50 Songs gespickt, hält der dritte "Grenzwellen"-Sampler erneut kleine Meisterwerke bereit, die sich von harshen Noise über sphärischen Ambient, bedrohlichen Dronesounds bis hin zu klassisch anmutenden Kompositionen erstreckt. Wie auch bei den anderen beiden Zusammenstellungen, gilt nur ein Gebot für "Grenzwellen Drei": In vorgegebener Reihenfolge hören, keine Zufallswiedergabe einschalten! Denn Ecki macht sich nicht nur Gedanken dazu, welche Stücke auf seinen Sampler drauf sollen, sondern wie sie in Relation zu den anderen positioniert werden müssen, um so den größten Widerhall zu erfahren. So beginnt der dritte auditive Geniestreich mit harten Rhythmen von Bombardier und Fix:8Sëd8. Diese verschwinden mit jedem weiteren Song und tauchen im fast 20-minütigen "Cairo Encore" von Cosmic Ground unter wabernden Synthesizersequenzen ab. Geradezu entspannt balearisch wird es bei Orange Crush und ihrem "Magic Sunrise", ehe sich der Fokus ein weiteres Mal auf einen klassisch-cineastischen Sound verschiebt und in "End Of All Life" von Himmelsrandt einen ersten Höhepunkt erfährt. Hoshiko Yamane ist mit "The Silence Is White", einer introvertierten Streicherkomposition, in der Mitte des Samplers der Klassik am nächsten. Dies soll als Einblick genügen, um den musikalischen Bewusstseinsstrom verständlich zu machen, den Ecki Stieg auf "Grenzwellen drei" wieder einmal perfekt ausgearbeitet hat. Die zweite Hälfte sollen geneigte Hörer für sich entdecken.
Eine regelrechte Überraschungskiste ist auch das australische Label Detonic Recordings, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, elektronischen Cold Wave aus allen Ecken und Enden der Welt ausfindig zu machen. 2018 veröffentlichten sie pro Monat eine digitale Single, stilecht mit einer A- und einer B-Seite. "Minimum Viable Product" fasst diese Kollaborationen noch einmal zusammen. Es vereint alle Titelsongs der Singles auf einem Tonträger (der wahlweise auch virtuell oder klassisch als Vinyl direkt beim Label erstanden werden kann). Haben sich die vorher besprochenen Kompendien durch ihre ausufernde, flächendeckende Songauswahl ausgezeichnet, verdichtet "Minimum Viable Product" die elektronisch-melancholischen Ausfransungen abseits der großen Festivals auf einen konzentrierten Strom aus scheppernden Sounds und unterkühlten Rhythmen. Eröffnet wird der Reigen der unbegrenzten Klangmöglichkeiten mit Postmodernism Forms, einer nach Angaben von Detonic Records nebulösen Band aus Bogota in Kolumbien. Ihr shuffeliges "Inside War" arbietet dezidiert mit reduziertem Arrangement, über das die Sängerin ihre monotone Stimme legt. Auch die nachfolgenden Neon Lies aus Zagreb huldigen einem düsteren und minimalen Cold Wave, den sie bei "Visitors" mit einem perfekten Spannungsbogen ausstatten. Selbstverständlich muss auch Australien vertreten sein. In diesem Fall ist es ein sehr vielversprechendes Projekt namens UIU, das sich mit "Wild And Innocent" auf den Spuren solchen ätherischen Klassikern wie "Goodbye Horses" von Q Lazarus begibt. Eher schroff und mit einer eindeutigen Hinwendung zum Punk interpretieren Secret Mutilator aus Kalifornien ("Life Sanatizer") und Franco Divine aus Frankreich den Begriff Cold Wave. Letzerer lässt auf "Geush" seine Maschinen ordentlich schwitzen und arrangiert unter einer unnachgiebigen Basslinie Samples, Drumfills und hektische Sequenzen zu einer Klang gewordene Kriegserklärung. Aber wie extrem manche Stücke auch sein mögen: Sie alle besitzen hohen Wiedererkennungswert und machen einmal mehr deutlich, dass der elekronischen Musik noch lange nicht die Puste ausgeht.
||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 28.01.2019 | KONTAKT | WEITER: BAUHAUS "THE BELA SESSION>
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Webseiten:
www.cherryred.co.uk
grenzwellen.bandcamp.com
www.detonicrecordings.com
Covers © Grapefruit/Cherry Red/Rough Trade ("Come Join My Orchestra", "Third Noise Principle"), Grenzwellen/Katrin Rathsfeld ("Grenzwellen Drei"), Detonic Records ("Minimum Viable Product")
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