SIGNAL BRUIT "HYPERBORÉE": HISST DIE SEQUENZER!
Ausgerechnet historische Stoffe haben es dem futuristischen Projekt Signal Bruit angetan. Member U-0176, sonst als Klangmeister bei der französischsprachigen Synthie-Pop-Gruppe Celluloide angestellt, ließ sich bereits bei seinem beachtlichen Debüt "Planisphère(s)" vom aus dem 19. Jahrhundert stammenden Werk "Flatland" des Briten Edwin A. Abbott, einer abstrakten Karikatur der viktorianischen Gesellschaft, inspirieren.
Auf "Hyperborée" führt ihn sein Weg noch weiter in die Menschheitsgeschichte zurück: Hier bilden die Erkundungsfahrten des Griechen Pytheas von Massalia aus dem dritten Jahrhundert vor Christus die Grundlage für sein aktuelles Opus. Jener wollte damals den Beweis antreten, dass die Erde eine Kugel ist. Seine einleuchtende Theorie: Wenn man am höchsten Punkte der Erde steht, kann man die Sonne den ganzen Tag sehen. Seine Niederschriften sind verschollen, aber andere Autoren haben ihn, teilweise harsch kritisierend, zitiert, sodass auch nachkommende Generationen von seinem Wirken Notiz genommen haben.
Signal Bruits Konzepts und die Titelgebung kommen sicherlich nicht von Ungefähr. Massalia, die Heimat von Pythea, ist das heutige Marseille, was wiederum Heimat von Member U-0176 ist.
Und "Hyperborée"? Das war ein in der Antike sagenhaftes Land im Norden, das Pytheas ansteuerte, um dort die Beweise zu finden, die seine These untermauern würden. Gleichzeitig ist "Hyperborea" auch der Titel eines Albums von Tangerine Dream, deren Einfluss auf Signal Bruit bereits beim Vorgänger unverkennbar ist.
Doch verabschieden wir uns von den möglichen Querverweisen und gehen in medias res.
Aus dem analogen und digitalen Instrumentarium zeichnet Singal Bruit die Fahrt des Abenteurers nach, lässt in "Sirènes" die raue atlantische See durch unruhige Rhythmusbeschleunigung aufleben, während majestätisch kühle Soundwände die fabelhafte Insel "Thule" beschwören (Pytheas hat wohl damals Island oder die Färöer Inseln angesteuert).
Der Vorstoß in unbekanntes Gebiet quittiert Singal Bruit mit immer rhythmischer akzentuierten Stücken. So zischt und pfeift in "Borée" der eisige Nordwind, der den sonnenverwöhnten Südeuropäer sicherlich einiges abverlangt haben dürfte. Am Ende der Fahrten durch stürmische See und auf dem Wasser treibenden Eissschollen steht "Nuit Blanche", das Ziel der Reise, das Signal Bruit gleichsam majestätisch wie auch unheimlich mit Sequenzen belädt.
Das zweite Album schafft es erneut, nur mittels Kraft elektronsicher Töne und Geräusche ein lebendiges Bild eines großen Abenteuers hervorzuzaubern. Die tonale Progression des Album entspricht dabei auch den geografischen Gegebenheiten und Reisestationen von Pytheas. Von den weichen, harmonischen Strukturen, die Spiegelbild der vertrauten Gegebenheiten des Reisenden sind, begibt sich "Hyperborée" in immer unsichere Gefilde, die sich in zunehmenden Störgeräuschen manifestieren. Das alles geschieht aber nicht schlagartig, sondern unmerklich und organisch.
Mit "Hyperborée" gelingt Signal Bruit nicht nur ein würdiger Nachfolger von "Planisphère(s)", sondern zudem auch eine französische Auslegung der Berliner Schule, was das Werk für Klangfetischisten sehr reizvoll machen dürfte. Ebenso spannend der Blick in die Zukunft: Welche geschichtliche Gegebenheit oder literarischen Werke wohl das nächste Mal als Vorlage für die spannenden Klangcollagen sein werden?
||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 22.07.2020 | KONTAKT | WEITER: RUFUS WAINWRIGHT "UNFOLLOW THE RULES">
Webseite:
www.facebook.com/signal.bruit
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