JAHRESZAHLENSONGS: EIN GUTER JAHRGANG
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Kinder, wie die Zeit vergeht! Das merkt man auch besonders dann, wenn in Songs konkrete Jahreszahlen eingebaut werden und damit ein ganzes Lebensgefühl sich wieder in Erinnerung zurückruft. Manchmal dienen Jahreszahlen aber auch nur, um - bisweilen absichtlich stereotype - Assoziationen zu provozieren. Es gibt eine Menge Lieder, die gerne mal auf den Kalender blicken, aber gerade diese fünf Nummern haben es dem Autor dieser Zeilen besonders angetan.
PLATZ 5: DAVID BOWIE "1984"
Dank George Orwells gleichnamigem Roman wartete die Welt seit Veröffentlichung des Buches 1949 gespannt darauf, ob 1984 wirklich so dystopisch sein würde wie beschrieben. Auch das große Pop-Chamäleon David Bowie hat sich der Geschichte um den totalitären Staat Ozeanien gewidmet und plante sogar, daraus ein Musical zu machen. Doch Orwells Witwe Sonia ließ das nicht zu, und so wurde "1984" eine Nummer auf der 1974 erschienenen Platte "Diamond Dogs". Auf ihr waren mit "Big Brother" und "We Are The Dead" weitere Songs zum Roman zu hören. Zunächst noch als Medley "Dodo/1984" komponiert (und erst 1989 in dieser Form veröffentlicht), wurde "1984" als Single in Amerika, Neuseeland und Japan veröffentlicht - mit eher bescheidenem Erfolg, wie übrigens "Diamond Dogs" insgesamt als eher schwaches Album beschrieben wurde. Dabei ist "1984" von einem feinen Funk-Rock durchzogen, der auch an den drei Jahre zuvor veröffentlichten Song "Theme From Shaft" von Isaac Hayes erinnert. Das Lied ist dabei Rück- und Vorgriff in einem. Textlich basiert die Nummer eher vage auf Orwells Buch, baut daufür aber einige Versatzstücke aus "All The Madmen" ein, das auf "The Man Who Sold The World" erschienen ist, während der discoide Sound den stilistischen Weg andeutet, den Bowie auf dem nächsten Album "Young Americans" einschlagen würde. Schade, dass es nie dazu gekommen ist, aber "1984" als großes Pop-Musical wäre sicherlich eine riesige Sache gewesen. Mittlerweile hat uns "1984" bereits eingeholt. Big Brother, Neusprech...erschreckend, wie real das alles mittlerweile ist.
PLATZ 4: KILLING JOKE "EIGHTIES"
Es gibt mehrere spannende Geschichten zu "Eighties" von Killing Joke zu erzählen. 1985 erschien das Lied als erste Auskopplung aus dem Album "Nighttime" und wurde, wie auch die Nachfolgesingle "New Day", eher ein Ladenhüter. Erst ein Jahr später sollten Jaz Coleman und seine Mannen mit der dritten Single "Love Like Blood" einen meßbaren Charterfolg verbuchen können. Im Laufe der Zeit gewann das düstere, noch sehr am Punk orientierte "Eighties" aber immer mehr Zuspruch, weil es schonungslos auf die so genannte "New Economy" eindrosch und messerscharf den Kampf ums Überleben im sich damals zu entfesseln beginnenden Kapitalismus sezierte. "Push" und "Struggle" tauchen immer wieder im Text auf, der knallharte, schnelle Beat treibt diese Hetzjagd auf die Spitze. Maßgeblich für die Nummer ist auch die markante Gitarrenfigur, die teilweise inflationär als Untermalung diverser 80er-Dokus herhalten musste. Ihre Historie ist nicht minder spannend: Wie hinlänglich bekannt sein sollte, veröffentlichten Nirvana 1992 den Song "Come As You Are", in dem sich jene Gitarrenakkorde in verlangsamter Form wiederfinden. Jedoch haben Killing Joke den Rechtstreit schnell beigelegt, wohl auch, weil sie wussten, dass sie - und das wissen nur wenige - ebenfalls des Plagiats bezichtigt werden könnten. Denn bereits 1982 erschien "Life Goes On" von The Damned - ebenfalls mit dieser Akkordfolge. Später haben Mitglieder von Killing Joke und dem Nirvana-Schalgzeuger Dave Grohl (mittlerweile Foo Fighters) sogar gemeinsame Sache gemacht und lächeln heute über den damaligen Zwist. Killing-Joke-Gitarrist Geordie Walker verstarb leider im vergangenen Jahr mit 64 Jahren an den Folgen eines Schlaganfalls.
PLATZ 3: NICK CAVE & THE BAD SEEDS "STAGGER LEE"
Die Geschichte des Zuhälters Lee Shelton, der am Heiligen Abend 1895 in St. Louis im Streit einen Freund erschoss, gehört zu den großen ungeschriebenen Mythen der amerikanischen Geschichte. Als Stagger Lee (wahlweise auch Stack O'Lee, Stagolee, Stackerlee und dergleichen mehr) wurde sein Schicksal in einem Blues verewigt und seitdem in verschiedenen Versionen neu erzählt, sodass die Figur Stagger Lee sich schnell von den realen Umständen löste und zum Stereotyp eines eiskalt mordenden schwarzen Mannes avancierte. Den vielleicht freiesten Umgang mit diesem Stoff erlaubte sich Nick Cave, der bereits in der ersten Zeile zu erkennen gibt, dass es sich hier um reine Fiktion handelt: "It was back in '32 when times were hard" eröffnet der Australier seine Nummer. Zu diesem Zeitpunkt war Lee Shelton aber schon 20 Jahre tot. Mit dieser information gibt Nick Cave aber zu erkennen, dass er sich an die sagenumwobene Geschichte nur als Vorwand nimmt, um daraus eine derbe, überzogene Mördergeschichte mit expliziter Lyrik zu basteln: "I crawl over fifty good pussies just to get one fat boy's asshole", gibt sich Stagger Lee omnipotent, der in der Cave-Version erst einmal den Barkeeper über den Haufen schießt, danach mit einer Bordschwalbe anbändelt und schließlich "Billy Dilly" ermordet (davor sollte dieser übrigens dem "bad motherfucker called Stagger Lee" noch einen blasen). Diese Splattervariante des erzählten Stoffes ist so drüber, dass man eigentlich gar nicht anders kann, als darüber zu lachen. "Stagger Lee" wurde 1995 auf dem erfolgreichen Album "Murder Ballads" veröffentlicht und zeichnet sich auch durch das schräge Ende aus, bei dem Blixa Bargeld markerschütternde spitze Schreie von sich gibt.
PLATZ 2: FETTES BROT "JEIN"
Was im Süden Die Fantastischen Vier sind, ist im Norden Fettes Brot. Das Trio um König Boris, Dokter Renz und Schiffmeister hatte sich 1992 zusammengetan und erste kleine Achtungserfolge erzielt. Der große Durchbruch gelang ihnen 1995 mit dem teilweise auf Plattdeutsch eingesungenen "Nordisch By Nature". Ähnlich wie die Kollegen aus Stuttgart, sind auch Fettes Brot großartige Storyteller, die mit "Jein" zur ersten Höchstform aufliefen. Der Songbeginn ist heute ein geflügelter Satz: "Es ist 1996, meine Freund ist weg und bräunt sich...". Daraus entwickeln sich drei kleine, aber feine Geschichten über Entscheidungen: Dokter Renz' Holde ist in der Südsee, während er zu Hause einer amourösen Versuchung widerstehen muss. König Boris hat sich in die Freundin seines besten Freundes verknallt; zu allem Überfluss ist sie ihm auch nicht abgeneigt. Und Schiffmeister wollte eigentlich einen gemütlichen Abend mit seiner besseren Hälfte verbringen, wäre da nicht die ultrageile Party, die gerade heute steigt und zu der er eingeladen wurde. "Jein" fängt mit seinem lässigen Beat (das Sample am Anfang des Liedes basiert übrigens auf der Free-Jazz-Nummer "Earth Abides" von Chris Barber aus dem Jahre 1972) und den entspannten Trompeten im Refrain perfekt die Stimmung deutscher Teenager in den 90ern ein. Der Mauerfall war frisch in den Köpfen, die Euphorie noch groß. Das Leben schien so leicht zu sein wie der Song selbst. Die oberflächliche Belanglosigkeit täuscht aber nicht darüber hinweg, welch feine Musiker Fettes Brot gewesen sind. 2022 haben die Jungs ihr Karriereende angekündigt, 2023 fand das letzte Konzert statt. Die jüngere Vergangenheit zeigt aber, dass Künstlerinnen und Künstler vom beschlossenen Ende auch wieder zurückgetreten sind. Hoffentlich ist auch das Ende von Fettes Brot ein definitives "Jein".
PLATZ 1: CLOWNS & HELDEN "ICH LIEBE DICH"
Und noch ein ikonischer Textbeginn: "Ausgerechnet mir muss das passieren: Wir haben '86 und ich altes Trottelgesicht habe mich verliebt". Was wie eine Zeile aus einem Tagebucheintrag klingt, ist das vielleicht beste Spoken-Word-Intro des vielleicht besten deutschsprachigen Rock-Pop-Song der 80er Jahre. Als NDW bereits längst ausgeblutet war und viele deutschsprachige Bands entweder wieder in der Versenkung verschwanden oder, wie im Falle Hubert Kah und Peter Schilling, sich auf Englisch versuchten, brachte die Band um Sänger Carsten Pape mit "Ich liebe dich" eine makellose Radionummer zu Papier, die gekonnt die Schlageruntiefen umschiffte. Die Geschichte ist schnell erzählt: Mann liebt Frau, kann es ihr aber irgendwie nicht beibringen. Doch wie Carsten singt, ist bemerkenswert. Entfernt an Joachim Witt erinnernd, packt er in seinen Text eine derartige Dringlichkeit, dass man meint, es würde ihn zerreißen, wenn er seiner angebeteten nicht schleunigst seine Liebe eingestehen darf. Das alles wird von klassischem 80er Radiorock begleitet, fiebriger Rhythmus, breitbeinigem Gegniedel und feine Synthielinien inklusive. 1986 war das große Jahr für Clowns & Helden - danach hatte Carsten Pape nicht mehr so viel zu lachen. Das Album mit dem einmaligen Titeln "Von beteuerten Gefühlen und anderer Kälte" schaffte Platz 17 in den deutschen Charts. Die nachfolgenden Veröffentlichungen verbuchte man nur noch unter ferner liefen. Pape blieb dem Musikbetrieb jedoch treu und wurde Songschreiber für andere Künstler wie und veröffentlichte Romane. 2023 veröffentlicht er als PAPE den Song "Egal wohin die Reise geht."
Covers © RCA (David Bowie), Universal Music Group (Killing Joke), Mute (Nick Cave & The Bad Seeds), Alternation (Fettes Brot), Teldec (Clowns & Helden)
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Rechtlicher Hinweis: UNTER.TON setzt auf eine klare Schwarz-Weiß-Ästhetik. Deshalb wurden farbige Original-Bilder unserem Layout für diesen Artikel angepasst. Sämtliche Bildausschnitte, Rahmen und Montagen stammen aus eigener Hand und folgen dem grafischem Gesamtkonzept unseres Magazins.
© || UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR | IM NETZ SEIT 02/04/2014. ||
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