5/18: NORTHERN ACCENT, WENDY MCNEILL, MARVIN PONTIAC, JENNY WILSON, DANIEL BLUMBERG - RECHNEN SIE MIT UNBEKANNTEN
Sie haben nur ein kleines Label, produzieren sogar im bescheidenen Eigenvertrieb ihre Musik oder erhalten nicht die extrem breite Promotion wie andere namhafte Musiker. Dennoch lohnt es sich immer, auch einen Blick hinter den großen Namen eines Genres zu wagen. Denn sie bieten einige Überraschungen.
In Sachen erfolgreich an den Mann gebrachten Neo-Folk darf sich seit langem die Band Rome rühmen. Ihre - in der Tat delikaten - Konzeptalben sollten aber nicht zur Vermutung führen, dass sie die einzigen wären, die zu solch gediegenen Traurigkeits-Chansons in der Lage sind. Dank sozialer Medien und den hin und wieder überraschenden Verbindungen, die sich dort ergeben können, erreichte uns vor einiger Zeit von Niko Brückner der Aufruf, man möge doch mal sein Debüt-Album, das er unter dem Alias Northern Accent veröffentlicht hat, reinhören. "Dunklewolkemensch" betitelt, streckt es sich namenstechnisch in Richtung "Masse Mensch Material" der zu Beginn genannten Gruppe. Schon das anderthalbminütige "Made oder Mensch" bestätigt die eingangs gehegte Vermutung. Eine gobkörnig verfremdete Stimme spricht hier über flüchtige Synthieflächen. Der fließende Übergang in "Trigger Trauma" geschieht gleichfalls stilecht mit Nikos sonorem Timbre und einer Akustik-Gitarre, die durch einen dräuenden Hintergrund aus Geräuschen und verwaschenen Sounds einen unruhigen Gegenpol erhält. Überdeutlich also die Prallelen zu Jerome Reuter, besonders bei "Pain Is My Middle Name". Doch ihm das vorzuwerfen, wäre unfair. Denn "Dunklewolkemensch" schöpft bei aller stilistischen Nähe zu Rome auch aus eigenen Ideen, die sich vor allem gegen Ende immer stärker zu erkennen geben. Allen voran das Triptychon "Lucid Dreams" besitzt im zweiten Teil eine fast schon psychedelische Prog-Rock-Note. Hier kristallisiert sich das Alleinstellungsmerkmal von Northern Accent heraus, dessen weiterer musikalischer Werdegang auf jeden Fall mit Spannung verfolgt wird.
Ganz dem Stande alter Häsinnen zugehörig ist dagegen Wendy McNeill. Das vorliegende Werk "Hunger Made You Brave" ist bereits das sechste ihrer Karriere. Trotzdem hat es die Schwedin mit kanadischen Wurzeln noch nicht über den Nimbus des Geheimtipps hinaus geschafft. Das liegt vielleicht an ihrem sorglosen wiewohl ambitionierten und geichzeitig leichtfüßigen Tänzeln zwischen den Genrestühlen, was sie nicht immer greifbar für die Hörerschaft macht. Schließlich ist ihr auf Akkordeon basierter Folk eine Spur zu düster für die große, gerne der leichten Muse zugetanen Indie-Gemeinde, sprüht aber andererseits noch zu viel "Pop-Appeal" aus, um dem gemeinen Schwarzmantelträger vollends zu gefallen. Wer sich aber wenig um szenetypische Attitüde schert, wird schnell auf einen ganz eigenen, höchst charmanten Kosmos stoßen, den die Künstlerin mit ihrer Musik erschafft. Da baut sich in "The Binding Of Fenrir" eine balkaneske Melancholie auf, die am Ende in ekstatische Tanzeslust mündet, während "Red Red Red" mit anfänglich repetitivem Gitarrenspiel im Schlafwandler-Modus und den fast flüsternd vorgetragenen Lyrics eine experimentellere Seite McNeills offenbart. Ihr esoterisch gefärbtes Organ, dessen wohltuende Nähe zu Tori Amos unverkennbar ist, kann sich in dem schaurig-schönen Mitternachtswalzer "This Hope" mit einigen Überschlagskünsten auch in eine dezent paranoide Richtung entwickeln. Wendy McNeill ist eine Meisterin der kleinen Gesten, ihre Emotionen entstehen nicht durch großen Pomp, sondern durch feine Nuancen, die in Musik und Gesang versteckt angelegt sind und es eine wahre Freude ist, sie mit jedem weiteren Durchlauf von "Hunger Made You Brave" zu entdecken.
Wiederentdeckt hingegen hat man The Legendary Marvin Pontiac, die vielleicht amüsanteste mediale Finte seit den Hitler-Tagebüchern. Denn der afroamerikanische Musiker Marvin Pontiac, der 1932 geboren und 1977 vom Bus überfahren sein sollte, war die überaus geniale Kopfgeburt des Allroundkünstlers John Lurie, der besonders Jim-Jarmusch-Verfechtern als konstantes Ensemblemitglied seiner frühen Filme bekannt sein müsste. Tatsächlich hat es Lurie geschafft, mit angeblichen Aussagen von namhaften Musikerkollegen und -kolleginnen wie Leonard Cohen, David Bowie oder Angelique Kidjo sowie verschwommenen "authentischen" Fotos von Pontiac - er wollte sich nicht ablichten lassen, weil er aufgrund seiner Paranoia der festen Überzeugung war, Kameras würden seine Seele einfangen - einen "verschollenen" Musiker zum Leben zu erwecken. Das Spiel mit Wahrheit und Fiktion führte schließlich dazu, dass das "Greatest Hits"-Album dieses großen unbekannten Künstlers mit der herrlich tiefen Stimme, bei seiner Veröffentlichung anno 1999 tatsächlich für bare Münze gehalten wurde - und nachfolgend auch harsche Kritik erntete. Aber nicht, weil viele Medienvertreter dieser ausgemachten Münchhausen-Nummer so kolossal auf den Leim gegangen sind, sondern weil die Darstellung des an Wahnvorstellungen leidenden Künstlers einigen mißfiel. Darüber lässt sich tatsächlich streiten. Nicht aber über die Tatsache, dass das Album, das jetzt als Vinyl (und im Juni auch als CD) wiederveröffentlicht wird, ein musikalischer Leckerbissen ist, der mit klassischem Blues ("I'm A Doggy"), rockigen Barnummern ("Runnin' Round"), Funkadelic-Kleinoden ("Bring Me Rocks") und abstrusen Singer/Songwriter-Witzen ("Little Fly") quasi en passant die amerikanische popmusikalische Geschichte verdichtet wiedergibt und bis heute einfach Spaß macht.
Ganz und gar nicht spaßig ist das Thema, das die Schwedin Jenny Wilson in ihrem fünften Album "Exorcism" behandelt. Es geht um die Verarbeitung eines sexuellen Übergriffs, den die Musikerin selbst erlebt hat. Sicherlich findet dieses Sujet in Zeiten erhitzter #metoo-Debatten vielleicht mehr Gehör als noch einige Jahre zuvor. Allerdings verdingt sich Wilson, deren kunstvoll arrangierter Club-Sound sogar ihrer Landsfrau Robyn gut zu Gesicht stünde, nicht in eine passive Opferrolle, sondern geht energisch und ohne falsche Sentimentalität mit dieser Erfahrung um. Der beredte Albumtitel ist das entscheidende Indiz: Die Musikerin vollführt auf neun Songs die Austreibung ihrer alten Dämonen und beginnt mit "Rapin*", einer schonungslosen Darstellung der Ereignisse, vorgetragen unter transparenter Elektronik mit anschwellendem Tempo. Im Laufe des Albums verschiebt sich ihr Fokus. "Disrespect Is Universal" beklagt sie und richtet damit einen Appell an alle. Auffällig an diesem Seelenstriptease ist die Stärke, mit der Wilson ihre Geschichte schildert. Sie manifestiert sich auch in der Wahl ihrer Sounds, die in "The Prediction" oder "It Hurts" alles andere als die verstörte Frau symbolisieren, das sie, wer würde es ihr verdenken, durchaus auch sein könnte. Stattdessen zeugen energiegeladene Beats und Melodien und ein freundlicher Elektro-Pop-Anstrich vom Lebenswillen Wilsons und ihrem unbedingten Wunsch, sich von solch schlimmen Ereignissen nicht aus der Bahn werfen zu lassen. Auch wenn "It's Love (And I'm Scared)" die bittere Erkenntnis bereithält, dass nichts mehr so sein wird, wie es mal war und ein Urvertrauen in die Liebe verloren gegangen ist. In seiner Direktheit ist "Exorcism" jedenfalls sinnbildlich für eine Frau, die nicht an ihrem Schicksal zerbrochen ist.
Von eben jenem gebeutelt scheint das britische Wunderkind Daniel Blumberg zu sein. Bereits als Mitglied der Cajun Dance Party und Yuck in weihevolle Indie-Sphären angekommen, ist seine erste Solo-Platte "Minus" nun das Produkt einer Improvisation, entstanden in den dunkelsten Stunden des Musikers, der während der Aufnahmen nicht nur mit psychischen Problemen zu kämpfen hatte, sondern auch noch das Ende einer Beziehung und den unerwarteten Tod eines Freundes aus Sandkastentagen zu verkraften hatte. Innerhalb von fünf Tagen in Wales mit Musikern eingespielt, die er in der kreativen Szene rund um das Londoner Café OTO kennen gelernt hat, lässt Daniel Blumberg an seinem kaputten seelischen Zustand nicht den leisesten Zweifel aufkommen. Der Titelsong eröffnet auf programmatische Art und Weise das Album und macht gleichzeitig die größten Zugeständnisse an den Hörer, der sich nie in wohlklingender Sicherheit wiegen darf. Denn dissonante Streicher brechen unerwartet in das in Moll-Akkorden badende Stück ein und zerlegen die Trauerballade in ihre Einzelteile. Das zwölfminütige "Madder" treibt diese Ambivalenz aus kompletter Hoffnungslosigkeit und musikalischer Experimentierfreude auf die Spitze. Die manisch-depressiven Stücke vereinen Niedergeschlagenheit und Raserei, lassen im vorletzten Stück "The Bomb" zwar Hoffnung aufkeimen, Blumberg würde zur Ruhe finden, doch "Used To Be Older" mit sakralem, gleichzetig aber auch tristen Chor aus wenigen Kehlen, sowie einer abermals schonungslosen Saiteninstrumentbearbeitung, belegt, dass der Schmerz bleibt, ja, sich vielleicht sogar noch verschlimmert. Am Ende möchte man Daniel Blumberg einfach nur noch in die Arme nehmen.
||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 22.05.2018 | KONTAKT | WEITER: YAN WAGNER VS. TIKTAALIK VS. SN-A>
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Webseiten:
northernaccent.bandcamp.com
www.wendymcneill.com
marvinpontiac.bandcamp.com
www.facebook.com/jennywilsonpage
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Covers © Northern Accent, Startracks/Indigo (Wendy McNeill), Northern Spy (Marvin Pontiac), Gold Medal Recordings/Broken Silence (Jenny Wilson), Mute (Daniel Blumberg)
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