4/25: EVERYTHING IS RECORDED, CHRIS IMLER, TELUXE, SKLOSS, B.ASHRA & RICKY DEADKING - NICHTS IST UNMÖGLICH - UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR

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4/25: EVERYTHING IS RECORDED, CHRIS IMLER, TELUXE, SKLOSS, B.ASHRA & RICKY DEADKING - NICHTS IST UNMÖGLICH

Kling & Klang > KURZ ANGESPIELT > 2025
Richard Russell ist einer dieser Namen, die nie wirklich im kollektiven Gedächtnis auftauchen, obgleich sein Einfluss auf die zeitgenössische Popmusik nicht unerwähnt bleiben sollte. Als Chef des renommierten Labels XL Records und Produzent einiger ikonischer Alben wie "I'm New Here" von Gil Scott Heron (2010) und Peter Gabriels "I/O" (2023) ist seine Meisterschaft unbestritten. Als Everything Is Recorded tritt er auch als Musiker in Erscheinung. Jedoch bleibt er stets nur der Mann im Hintergrund. Wie schon die vorherigen Alben, so ist auch "Temporary" eine groß angelegtes Happening, bei dem sich verschiedene Musiker, die mehr oder weniger mit Richard zusammengearbeitet haben, die Studiotürklinke in die Hand geben. Die Liste aller Mitwirkenden ist wirklich beachtlich. Unter anderem sind auf "Temporary" Bassistenlegende Jah Wobble, Sängerin Florence Welsh (Florence & The Machine), Bill Calahan und Saxofonist Kamasi Washington zu hören. Über einen Zeitraum von vier Jahren erstreckten sich die Aufnahmen, bei denen Russel die Quintessenz aus Pop, Jazz, Trip-Hop und Avantgarde zu destillieren versucht. Manchmal jubelt es gospelartig wie in "Never Felt Better", nur um bei "Losing You" eine ultracoole Basslinie auf die Menschheit loszulassen, aus dem sich ein bluespoppiger Song der Marke "Human" von Rag'n'Boneman mit ganz eigener Handschrift entwickelt. Trotz der vielen unterschiedlichen Einflüsse - von HipHop-Andeutungen bei "Firelight" bis hin zum abgewrackten Folk-Song "Goodbye (Hell Of A Ride)" - bleibt "Temporary" eine erstaunlich homogene Platte. Das liegt vor allem an Russels Idee, den Stücken eine stets dunkle und schummrige Aura zu verpassen. Selbst in den lieblichsten Momenten (vor allem bei "Swamp Dream #3") schwebt stets ein dunkler Schleier über den Kompositionen. "Temporary" ist ein anspruchsvolles, aber gleichzeitig grandioses Werk geworden, das Richard Russell nicht nur auf den Zenit seines Schaffens präsentiert, sondern auch seine Fähigkeit, komplexe Sounds nachvollziehbar klingen zu lassen, hervorhebt.

In Zeiten, in denen das Internet mittlerweile seine hässliche Seite ungeniert von sich preisgibt, wirkt Chris Imlers Album "The Internet Will Break My Heart" fast schon wie der Titel einer digitalen Seifenoper. Doch tatsächlich versteckt sich dahinter die absolute Dystopie, die der Schlagzeuger in intelligente Töne transformiert. Auf dem vierten Album des gebürtigen Augsburgers wimmelt es von industriellen Sounds, in denen sich ein Wohlklang schneller zersetzt als eine Aspirintablette im Wasser. Kopfschmerzen bekommt man zwar nicht von den frickeligen Tracks, aber die Denkmurmel wird dennoch angeregt. So wie in "Me Porn, You Porn", das gleichzeitig auch eine popkulturelle Metaebene öffnet. "Love Is A Battlefield" steigt Chris unter zersetzender Elektronik ein und setzt eine Verbindung zu Pat Benaters gleichnamigen Hit aus dem Jahre 1983. Doch wo bei ihr der Titel eine reine Metapher ist, wird sie von Chris zu einer Feststellung und Zustandsbeschreibung einer Gesellschaft, die stets nach dem nächstem erotischen Kick sucht. Ganz klar: Chris Imler gibt auf "The Internet Will Break My Heart" einen intelligenten Abgesang auf eine Gesellschaft, die im Begriff ist, sich selbst auszuhebeln. Am Ende bleibt dem Individuum nur noch die Flucht in seine innere Welt. Oder der exzessive Tanz, der das temporäre Vergessen fördert. Und so wandert das Album zwischen DAF-ähnlichen Songs wie "Un solo corpo" oder dem spröden "Let's Not Talk About The War" und verstiegenen Surrealitäten wie "Agoraphobie" oder dem krautigen "Liturgy Of Litter". Zweifelsohne hat der Mann erst mit fortschreitendem Alter seine künstlerische Sprache gefunden. Dass seine Alben immer interessanter werden, liegt aber auch an der unerklärlicher werdenden Welt. Je apokalyptischer das Leben, desto nachvollziehbarer Imlers musikalische Visionen.

Was ist das bitte für eine Lebensgeschichte? Tex Brasket kam 1980 in Texas zur Welt. Die Eltern: extrem drogenabhängig. Deswegen führte Tex' Weg aus dem Mutterleib direkt in eine Entziehungskur. Danach wurde er von einem Ehepaar aus Bayern adoptiert und wuchs hierzulande auf. Doch Zeit seines Lebens blieb der Mann ein Suchender. Als obdachloser Straßenmusiker wurde er, dank viral gehender Videos von ihm, vom Slime-Gitarristen Christian Mevs entdeckt, der ihn als Sänger der Band anheuerte. Seitdem erhält der Mann mit seinem bewegenden Schicksal viel größere Aufmerksamkeit, die er nutzt, um seine Geschichte zu erzählen - eine Geschichte, die von Rückschlägen und Orientierungslosigkeit geprägt sind, aber auch von der Hoffnung, einen Ausweg zu finden. Zusammen mit Lucas Uecker von der Akustik-Pop-Formation Liedfett hat er nun das Projekt Teluxe ins Leben gerufen. Ihr Erstling "Der Wind ist mit uns" lebt von einer urwüchsigen Kraft, die sich aus düsteren Americana-, Blues- und Folkelementen speist, über die Tex mit einer gehörigen Portion Energie rappt. Wer sich noch an Everlast ("What It's Like") erinnert, bekommt eine vage Ahnung davon, was einem auf diesem Werk erwartet, angereichert jedoch mit mehr Straßendreck und Lokalkolorit. Schon der Opener "Hart" zeigt sich räudig, aggressiv und gibt die Grundstimmung der Langrille vor. Doch "Der Wind ist mit uns" ist keine reine Anklageschrift. Das Album kann man als eine Vertonung seiner kürzlich erschienenen Autobiografie "Dreck und Glitzer" verstehen. Dort zeigt er sich auch selbstkritisch. "Eigentor" und "Bruchpilot" sind nur zwei Beispiele für die schonungslose Abrechnung mit seinen eigenen Fehlleistungen. All das verpacken Teluxe in einen sehr erdigen und ehrlichen Sound, der in "Dorothy" zwar durchaus gefällig ist, durch den expliziten Text aber keine Feelgood-Vibes aufkommen lässt. "Der Wind ist mit uns" ist kredibler als so manches Berlin-Gangsta-Rap-Album.

Ebenfalls aus Texas stammt Skloss. Deren Debüt "The Pattern Speaks" ist das Ergebnis einer Reise, die in der Corona-Pandemie ihren Anfang genommen hat. Das Ehepaar Karen Skloss und Sandy Carson haben während des Lockdowns Skloss gegründet. Wie einst The White Stripes besteht der rohe, unbändige Sound aus nur zwei Zutaten: E-Gitarre und Schlagzeug. Doch im Gegensatz zu den Heroen des Garage-Rock sucht das texanische Zweiergespann vor allem nach der Möglichkeit, so laut und brachial wie nur möglich zu spielen. Damit stehen sie, stilistisch gesehen, Swans deutlich näher. Vielleicht hat man auch deswegen Charles Godfrey bei den Aufnahmen dabei gehabt. Seine Arbeit mit den Yeah Yeah Yeahs - und eben Swans - hat sicherlich das Klangbild von Skloss maßgeblich beeinflusst. So wartet gleich der Titelsong mit einem präzisen, teils gegenläufig gespielten Riff, das sich sofort in die Gehörgänge fräst. Was danach kommt, ist eine Mischung aus Psychedelica und Noise. So auch wie "Imagine 100  Dads", das unter einem verschleppten Rhythmus die Gitarre röhren lässt, dass es nur so eine Art hat. Das Ehepaar hat erklärt, dass die Songs so laut wie möglich sein sollten, denn sie waren die Antwort auf den Lockdown und die surreale Zeit während der Pandemie. Diese ist mittlerweile vorbei, aber die Songs auf "The Pattern Speaks" besitzen immer noch diese klaustrophobischen Momente (vor allem das hypnotische "Dead Bone" sei da an erster Stelle genannt). Man kommt nicht umhin, Skloss ein großes Lob für diesen Ausbruch an Energie auszusprechen. Bleibt nur zu hoffen, dass dies der Anfang von einer Erfolgsstory sein wird.


Mittlerweile ist das Fusion-Festival ein wichtiger Teil alljährlicher musikalischer Großveranstaltungen. Doch 1999 fand dieses Event erst zum zweiten Mal statt und war dementsprechend noch sehr überschaubar und ein reiner Insider-Tipp. Damals begab es sich aber, dass ein gewisser B.Ashra zusammen mit Alexander Rues alias Ricky Deadking ein Opener-Set für die Trance-Bühne am späten Samstag-Nachmittag spielte, der bis zum Sonnenuntergang andauern sollte. Beginnend mit kontemplativen Ambient-Flächen der Stücke "Micro Foundation" und "Tune In" über die Trip-Hop-Atmosphäre von "Money" steigerten die beiden Musiker langsam die Intensität: Den wabernden Flächen wird wie in "Skyline" ein Beat untergeschoben, ehe "Clouds Over Chefchaouen" einen verstohlenen Blick in Richtung Psy-Trance wagt. Punktgenau zum Sonnenuntergang gehen die B.Ashra und Ricky Deadking mit "Rising High" in einen minimalistischen Techno-Sound über, der in "Mini-Mal" mit einer gehörigen Portion Acid vermischt wird. Gerade bei diesem Stück überkommt einem die Nostalgie. Denn wer in den 1990ern groß geworden und vor allem Techno gehört hat, wird in Stücken wie "Bamboo Pipe" und "Blood Vest" in eine Zeit zurück katapultiert, in der scheinbar alles möglich war und der Weltfrieden nicht bloße Utopie. Jedenfalls erwies sich dieses spannende und perfekt abgestimmte Set von B.Ashra und Ricky Deadking als voller Erfolg. Der Mitschnitt wurde als gebrannte CD auf 100 Stück limitiert vertrieben, ehe das Laben Bochumer Ton Manufaktur (BTM) eine gekürzte Version veröffentlichte. Nach mehr als einem Vierteljahrhundert ist B.Ashra immer noch ein wichtiger Teil der elektronischen Musikszene, Ricky Deadking alias Eru alias Alexander Rues verstarb bereits 2019. Dass "Live At U-Site Fusion 99" nun auch digital zugänglich gemacht wurde, ist auch eine Ehrerbietung an ihn.

||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 18.03.25 | KONTAKT | WEITER: AIMING VS. VLIMMER>

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