1/22: BLINDZEILE, ZEITGENOSSEN, FRAU FLEISCHER, S Y Z Y G Y X, THE BRUTE:, INCA BABIES - NACHZÜGLER TEIL I - UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR

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1/22: BLINDZEILE, ZEITGENOSSEN, FRAU FLEISCHER, S Y Z Y G Y X, THE BRUTE:, INCA BABIES - NACHZÜGLER TEIL I

Kling & Klang > KURZ ANGESPIELT > 2022

Nachdem man Blindzeiles drittes Album "Perle" gehört hat, ist man empört. Empört ob des immer noch sehr überschaubaren Erfolgs der Schweizer Formation um Sänger und Poeten David Pümpin. Bereits nach dem zweiten Album "Bewegung" von vor drei Jahren, das ebenfalls unsere Aufmerksamkeit erhalten hat, wünschte man sich schon mehr Zuspruch und eine wachsende Hörerschaft. Wie wir aber wissen, kam kurze Zeit später Corona, und mit Auftritten war erst einmal Essig. Immerhin hat es doch ein Gutes gehabt. In den halt- und orientierungslosen Zeiten findet Pümpin Zeit für die Vollendung seines dritten und vielleicht besten Werks "Perle". Immer noch geisert er mit pluckernder Elektronik und verhallten Gitarren umher. Aber dieses Mal wirken die Songs so griffig wie nie. Mit dem Titelsong oder dem vorantreibenden "Tausende Tage" schielt Blindzeile sogar neckisch auf die von Kunstnebeln durchtränkten Tanzflächen so genannter Gothic-Clubs. Allerdings ist Blindzeile keine Post-Punk-Combo im herkömmlichen Sinn, auch wenn einige Elemente dieser Spielart durchaus herauszuhören sind. Das Gros der insgesamt neun Songs will uns aber träumend machen. Ähnlich wie Astronauten in der Schwerelosigkeit ihre Bewegungen verlangsamen, scheint sich auf "Perle" alles etwas zähflüssiger abzuspielen. In den amorphen Kompositionen singt Pümpin natürlich von Liebe, aber auch von jeder Menge Unsicherheiten, die sich in den Wirren der Pandemie in der gesamten Gesellschaft breit gemacht hat. Auf "Perle" ist diese jedoch kein Hemmschuh, sondern essentielles und sinnstiftendes Thema, was den Drittling besonders hell scheinen lässt.

Wie Blindzeile, gelingt es auch der Bonner Formation Zeitgenossen auf ihrer aktuellen, im Eigenvertrieb herausgebrachte, Vinyl-EP "Sein" der deutschen Sprache das Kitschmoment zu entreißen und sie auf ihre existenzialistische Wahrheit hin zu überprüfen. Die Zeitgenossen singen über das Leben, natürlich. Und sie singen auch über Liebe. Diese gibt sich wie in "Sein" oder "Du bleibst bei mir" nicht sofort als solche zu erkennen. Das liegt an der Art und Weise, wie das Trio mit dem Thema umgeht: Das wavig-punkige Grundgerüst, garniert mit einem Hauch Shoegaze, sowie ein alerter Gesang, der irgendwo zwischen Sportfreunde Stiller und Kraftklub angesiedelt ist, verleihen den fünf intensiven Songs einen existentiellen Anstrich. "Sein" ist nicht Rosamunde Pilcher und auch Traumschiff, sondern ein schwarzweißer Arthouse-Film, ein Coming-Of-Age-Streifen, der sich an den brennenden Fragen der Adoleszenz abarbeitet. "Sein" ist nicht nur ein EP-Titel und nicht nur der gleichnamige Song daraus, sondern der unverstellte, schonungslose Blick auf die Frage nach dem Sinn des Lebens. "Du hast die Wahl" ist daher als Schlusspunkt der Platte gut gewählt, macht sie gleichzeitig das Dilemma unserer Existenz als eine unablässige Aneinanderreihung von Entscheidungen, die Auswirkungen auf unsere Zukunft haben, deutlich. Die Zeitgenossen lieben das Leben nicht, sie hassen es aber auch nicht. Sie nehmen es an, wie sie ist und feiern es auch ein bisschen in ihrer Unwägbarkeit. Und sie geben den Hörer mit ihren persönlich gefärbten Texten einige Ideen mit auf dem Weg, wie man das große Abenteuer unserer Existenz bestehen kann.

Der Bandname will uns weismachen, dass diese Gruppe wie die beiden zuvor besprochenen ebenfalls aus hiesigen Breitengraden stammt. Doch weit gefehlt! Frau Fleischer ist ein französisch-italienisches Trio, bestehend aus Sänger Gabriel Daimon, Greg Lambert an Gitarre und Schlagzeug sowie Franz Schultz an den Maschinen. Die Musik auf ihrem Debüt "When The Sun's Down" bezeichnen sie als " pop/rock/electro/cabaret/LGBT and more". Klingt ambitioniert, aber auch ein bisschen wirr. Doch die Befürchtungen, dass hier musikalisch wie thematisch übers Ziel hinausgeschossen wird, zerstreuen sich schnell. Im Grunde machen es Frau Fleischer gar nicht uncharmant: Zu elektronischen Sequenzen und geradlinigem Schlagwerk gesellen sich rotzige Schrammelgitarren, während Daimon, der sich selbst als "non-binäre Kreatur" beschreibt, mit einer lasziven Glam-Attitüde die Blicke und Lauscher auf sich zieht. Das Attribut "Cabaret" bezieht sich wohl auf die, so sagt es uns der Pressetext, außergewöhnlichen Live-Shows, die Frau Fleischer bereits absolviert haben. Die darin beschriebene Energie höchstenfalls nur erahnen kann man beim Video zu "Baby, I'm Free", das zweifelsfrei der beste Song des Albums ist. Zwar gibt die Band an, sich an nichts und niemanden zu orientieren, die Metal-Maschinen-Musik lässt aber zumindest Assoziationen mit den Krupps während ihrer frühen Crossover-Phase und den schwedischen Electro-Punkern Cat Rapes Dog großzügig zu. In diese Bewertung spielt auch die Tatsache mit rein, dass Frau Fleischer sich in der Produktions und Soundästhetik, bewusst oder unbewusst, an die 1990er orientiert, was gerade Nostalgiker auf den Plan rufen wird. Sie werden das Debüt "When The Sun's Down" sicherlich goutieren.

Von den Novizen zu einer festen Größe, zumindest in der düsterelektronischen Sparte. Um sie in einem Satz zu beschreiben, kann man den Slogan einer Hustensaft-Werbung nutzen: "Unaussprechlich, aber ausgesprochen gut". Denn S Y Z Y G Y X, ein in Washington beheimatet Electro-Projekt, sammelt seit einigen Jahren fleißig Treuepunkte bei den Schwarzkitteln. Als Duo begonnen, hält Musikerin Luna Blanc seit vergangenem Jahr alle Fäden selbst in der Hand. Das wirkt sich auch auf den Sound aus, der tatsächlich kompromissloser klingt als die vorangegangenen Veröffentlichungen, sowohl musikalisch als auch inhaltlich. Anfangs noch in klassischem Dark Wave verhaftet, ist das aktuelle Hörerlebnis "(Im)mortal" vielschichtiger und gewagter, hantiert mit schrägen Sounds (und ruft wie bei "Your Loss, Not Mine" Erinnerungen an die 80er wach), was dem Werk einen leich verdrehten Touch beschert. In ihren Songs legt Blanc ihr ganzes Wesen offen. "This is me, uncensored", beschreibt sie auf ihrer Bandcamp-Seite die Qunitessenz des Albums. Über den Stücken steht die Frage nach Unsterblichkeit im künstlerischen Sinn. Denn es ist das Tun, das ein Individuum über seinen Tod hinaus weiter leben lässt. Das können wichtige politische Entscheidungen, bahnbrechende Erfindungen, aber eben auch eindringliche Kunstwerke sein. Diese bestehen auf "(Im)mortal" aus 15 knapp gehaltenen Songs, die sich in stets radiofreundlichen dreieinhalb Minuten bewegen und Lunas Gedanken mal mehr, mal weniger explizit zum Inhalt haben. Ob sie damit, wie sie es sich wünscht, unsterblich wird, ist schwer zu sagen. Festzuhalten bleibt aber, dass S Y Z Y G Y X sicherlich auch noch dann gehört wird, wenn das Projekt gar nicht mehr existiert.

Ein Blind Date, so erzählt es der Beipackzettel für Musikjournalisten, fungierte als Initialzündung für The Brute:. Mastermind Daniel Gierke wurde vom Rendezvous gefragt, warum er denn nicht schon längst Musik professionell verfolge. Anscheinend drehte sich das erste Treffen ausschließlich um dieses Thema. In Daniel hat es daraufhin zu arbeiten begonnen. Das Ergebnis ist nun seit Ende 2021 auf dem Markt und nennt sich "Brute:One". Schon nach den ersten Klängen ist klar: Daniel lebtt seine Liebe für Synthie-Pop im Allgemeinen und Depeche Mode im Besonderen aus. Daraus ergibt sich eine interessante Konstellation zur Bewertung des Tonträgers: Eigentlich kann "Brute:One" als fast schon unverschämtes Plagiat in der Luft zerrissen werden. Andererseits haben sich die Vorbilder in den letzten Jahren musikalisch wie gesanglich selbst derart demontiert, dass es schon wieder eine wahre Freude ist, den Songs von Daniel zu lauschen. Das fängt schon bei "Driving To You", das stilistisch irgendwo zwischen "Walking In My Shoes" und  "Behind The Wheel" angesiedelt, und endet mit dem sphärischen Neunminüter "And I Want You". Stimmlich vereint Gierke beide Depeche-Mode-Barden in sich, wobei das sensible Vibrato von Martin Gore eher herauszuhören ist als Dave Gahans kräftiger Bariton. Gelingt es einem, sich davon zu lösen, dass The Brute:s Erstschlag tatsächlich wie ein verschollenes DM-Werk aus ihrer stärksten Phase zwischen 1985 und 1995 klingt, entdeckt man an "Brute:One" wunderbare Momente und an sich bockstarke Songs wie "Absolute Disgrace", "Rain" und "Seduce Me". Sicherlich eines der kontroversesten Alben des vergangenen Jahres, aber durchaus nicht unspannend.

Von einem, der so klingt wie früher, zu einem, der früher hautnah miterlebt hat. Harry Stafford tat sich die letzten Jahre mit den herausragenden Alben "Urban Gothic Blues" und  dem zusammen mit Marco Butcher eingespielten "Bone Architecture" hervor. Parallel dazu muss er bereits an der Reaktivierung seiner alten Band, den Inca Babies (mit neuen Mitgliedern), gefeilt haben. Sicherlich hat da auch die Pandemie einiges durcheinander gebracht. Wie dem auch sei: Nicht mal ein halbes Jahr nach "Bone Architecture" veröffentlicht er nun "Swamp Street Soul". Fast scheint es so, als hat das Trio nur darauf gewartet, endlich gemeinsam zu jammen und den Geist der frühen New-Wave-Bewegung wieder aufleben zu lassen. Trotz ihres fortgeschrittenen Alters besitzen die Jungs noch immer eine ordentliche Portion Eier in der Hose, was sie gleich mit dem Album eröffnenden Titelsong unmissverständlich klar machen. Ein paar todessehnsüchtige Trompeten, dubbige Gitarren und der schleppende Rhythmus belegen, dass die Inca Babies ihre ganz eigene Vorstellung von Gothic besitzen, die sich eher aus Spaghetti-Western, Punk und Blues zusammenschraubt. Und wenn man "Crawling Garage Gasoline" anhört, versteht man nur zu gut, warum sie Zeit ihres Bestehens mit Nick Cave respektive seiner ersten Band The Birthday Party verglichen worden sind. Jedoch sind Stafford und seine Mitstreitern von jeglichem Plagiatsvorwurf freizusprechen, denn dafür sind die Songs viel zu selbstständig und freigeistig, um sich einem anderen Künstler anzubiedern. "Swamp Street Soul" ist ehrlicher, geradliniger Rock mit einem Hauch Jenseits-Glamour und psychedelischem Impetus. Oder kurz gesagt: einfach geil.

||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 11.01.22 | KONTAKT | WEITER: IM GESPRÄCH - ROTERSAND>

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Webseiten:
www.blindzeile.de
zeitgenossen.bandcamp.com
fraufleischerband.bandcamp.com
syzygy-x.bandcamp.com
www.thebrutemusic.com
incababies1.bandcamp.com

Covers © Blindzeile, Zeitgenossen, Sliptrick Records (Frau Fleischer), Cold Transmsision Music (S Y Z Y G Y X), Timezone (The Brute:), Black Lagoon Records (Inca Babies)

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