"NOISE REDUCTION SYSTEM - FORMATIVE EUROPEAN ELECTRONICA 1974-1984": NEUE SOUNDS FÜR DEN ALTEN KONTINENT - UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR

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"NOISE REDUCTION SYSTEM - FORMATIVE EUROPEAN ELECTRONICA 1974-1984": NEUE SOUNDS FÜR DEN ALTEN KONTINENT

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Wird über elektronische Musik geschrieben, fällt der Blick zuförderst nach Deutschland. Besonders am Rhein düsselte ein Dorf mit einer Unmenge an elektronischen Gruppen herum. Hier brodeln ungehörte Klänge von Kraftwerk über Neu! bis hin zur Deutsch Amerikanischen Freundschaft vor sich hin und definieren den Sound der nächsten Generation.

Auch England gilt mit seinen vielen Elektronik-Bands als Miterfinder des massentauglichen Maschinen-Pop (wobei die meisten Musiker deutsche Vorbilder haben). OMD, Ultravox, The Human League oder auch Heaven 17 - und nicht zuletzt Depeche Mode - bestimmen die Charts der frühen 80er Jahe mit ihren verspielten und eingängigen Synthie-Schlagern und setzen auch modische Akzente.

Danach dünnen sich die relevanten Hotspots in Europa aus. Frankreich mag durch Jean Michel Jarre noch einige Relevanz besitzen; auch Belgien ist durch seine New-Beat-Phase mitbestimmend für den späteren Kirmes-Techno-Sound der 90er Jahre. Für gewöhnlich schließt hier das Kapitel. Doch es kann nicht sein, dass der massive Einzug vollelektronischer Instrumente, sowohl in hoch- wie popkulturelle Genres, den übrigen Ländern gepflegt am Allerwertesten vorbeiging.

Dem ist auch nicht so!

Schließlich ist der Einschlag dieser neuen Musikform derart enorm gewesen, dass selbst ein Norweger auf einem Fjord oder ein Spanier in seiner Finca die kulturellen Druckwellen zu spüren bekommen haben. Das althergebrachte Bild vom schweißtriefenden Rock'n'Roller wird ab diesem Zeitpunkt umgedeutet. Auf einmal betritt ein skurriler Typ den Musikzirkus - man würde ihn heute als Nerd bezeichnen. Unmengen von Keyboards und Tonbändern umgeben ihn wie einen Schutzwall und auf der Bühne steht er fast regungslos da, hochkonzentriert, um die neue, teils widerspenstige Technik zu bändigen.

Mittlerweile besitzen Synthesizer die Fähigkeiten, ein komplettes Orchester detailgetreu zu generieren. Zu Beginn jedoch lassen ihre Besitzer sie nur fiepen, surren und zischen. Darin liegt nämlich der Reiz: nicht wie ein Instrument, sondern eben wie eine elektronische Maschine zu klingen. "More Fun With Korg" heißt es bei Plus Instruments aus den Niederlanden. Der ungestüme Song mag programmatisch für eine ganze Generation neuer KünstlerInnen sein.

Gepaart mit einer anarchisch-antikünstlerischen Haltung, die sich aber gleichzeitig der Kunstgeschichte durchaus bewusst ist, entstehen in den ersten Jahren aufregende Werke, die durch den höchst unterhaltsamen und akribisch zusammengestellten Sampler "Noise Reduction System - Formative European Electronica 1974-1984" gebündelt worden ist und der interkontinentalen Umbruchsstimmung in dieser Zeit nachfühlt. Der Deutsche in seinem Ordnungs- und Etikettierungswahn bändigte diese ungestümen neuen Klänge unter dem Begriff "Geniale Dilletanten".

Das ist allerdings irreführend: Ein Großteil der Musiker aus dieser Epoche besitzen einen starken kunstgeschichtlichen Hintergrund. Nehmen wir beispielsweise Robert Görl von DAF (hier mit der klassischen EBM-Blaupause "Ich will" vertreten). Er ist ausgebildeter Schlagzeuger und hat zwei Konservatorien besucht. Ein anderes, weniger prominentes Exempel bildet Axel Kyrou, dessen Projekt Vox Populi mit "Après La Pluie" auf derm vier CDs starken Kompendium vertreten ist. Wie die spannenden Liner-Notes im Booklet verraten, hat sich sein Vater als surrealistischer Künstler verdingt, während seine Mutter von Pierre Schaeffer, dem Pionier der Musique Concrète, für seine Arbeit engagiert worden ist.

Letztes Beispiel gefällig? Das schweizerische Duo Schaltkreis Wassermann liefert mit "Lux" den Soundtrack zum gleichnamigen experimentellen Kurzfilm, den Studenten der Schule für Gestaltung in Basel gedreht haben.

"Uneasy Listening" betitelt Dave Henderson in seinem Vorwort das, was der Hörer hier geboten bekommt. Damit liegt er nicht ganz falsch. Tatsächlich verschwimmen hier die Grenzen zwischen klassischen Bandgefügen und einer modernen Kunstauffassung, die in Richtung einer maschinell induzierten Performance tendiert. Nettes Mitschunkeln? Fehlanzeige! Maurizio Bianchis "Industrial Tape Track 3 Extract" mag beispielhaft dafür sein. In diesem Stück lösen sich alle Liedstrukturen in ein postnuklearen Krach auf. Hier wirkt nicht mehr der Mensch auf die Maschine ein - die Maschinen erzählen den Menschen ihre Geschichte.

Ebenso nimmt Yuri Morozow bereits 1978 mit "Machine Dancing" ein Stück auf, das sich mehr dem "Triadischen Ballett" eines Oskar Schlemmers verpflichtet fühlt als der graubetonierten, geradlinigen Kraftwerk-Autobahn. Und Christina Kubisch, heute als renommierte Klangkünstlerin unterwegs, lagert anno 1984 in "Speak And Spell" die spacigen Töne aus dem Sprachsynthesizer des gleichnamigen amerikanischen Kinderspielzeugs übereinander und setzt einen putzigen Casio-Rhythmus darunter. Während andere Gruppen später den unikaten Klang von "Speak And Spell" als tönernes Gadget in ihre Nummern einbauen, transferiert die Multimediakünstlerin die Technik bereits auf ein Kunstniveau. Anscheinend hat sie bereits vor mehr als 30 Jahren begriffen, welchen Kultstatus dieses Gerät einst haben wird.

Einige der vertretenen Bands sind vielen heutzutage noch ein Begriff. Um so spannender ist es, ihre ersten musikalischen Gehversuche in Erinnerung zu rufen. Front 242 aus Belgien läuten 1988 mit "Headhunter" die nächste Generation martialischer EBM-Ensembles ein. Ihre erste Single "Principles", die für "Noise Reduction System" ausgesucht wurde, hat überraschenderweise einen deutlichen Krautrock-Einschlag. Ihre Landsmänner The Neon Judgement dagegen waren bereits mit ihrer ersten Single "TV Treated" (1982) sehr erfolgreich. Auch sie sind auf dem umfassenden Kompendium zu hören.


Nicht weniger überraschend ist Yellos "Glue Head", die B-Seite ihrer ersten Single "IT Splash". Mit einem sehr rockigen, bowieesken Sound, der noch wenig gemein hat mit dem Electro-Funk von "The Race" oder "Oh Yeah", beginnt ihre Laufbahn. Ihre Talente haben Dieter Meier und Boris Blank aber bereits hier schon unter Beweis gestellt.

Von der neuen Energie angesteckt, erleben sogar einige "Alteingesessene" einen musikalischen zweiten Frühling. So ist das wie aus einem Horror-B-Movie stammende "Die Biomutanten" eine Zusammenarbeit von Produzentenlegende Conny Plank und Holger Czukay von Can, die sich für diese Unterfangen den Namen Les Vampyrettes gegeben haben. Und Gerhard Narholtz, ein anerkannter österreichischer Komponist, veröffentlicht 1980 unter dem alias Walt Rockman mit dem Unterwasser-Klanggemälde "Plancton" ein experimentelles Elektronikwerk - da ist Narholtz bereits 43 Jahre.

Dass "Noise Reduction System" mit Cosmic Overdoses "Romantic" endet, kommt nicht von ungefähr. Die schwedische Band, die später als Twice A Man erfolgreich sein sollte, greift nicht nur im Titel, sondern auch musikalisch den "romantischen" Einzugs der Moogs und Korgs in eine gestylte Schulterpolster-Popmusikindustrie auf. Der Sampler macht aber auf den vier CDs deutlich, dass Bands wie Visage oder Depeche Mode in dieser Form nicht denkbar gewesen wären ohne die Menge an experimentellen Electro-Sounds. Erst der anspruchsvolle "uneasy listening" der vielen bereits vergessenen Künstler hat dafür gesorgt, dass elektronische Musik in seiner harmonisch angenehmen Variante den Stellenwert erhält, den er bis heute besitzt - nämlich als mittlerweile anerkanntes Genre und gar nicht mehr so "nerdiges" Nischenthema.

||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 02.09.17 | KONTAKT | WEITER: KURZ ANGESPIELT 8/17>


Webseite:
www.cherryred.co.uk


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COVER © CHERRY RED RECORDS/ROUGH TRADE

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