SCHWARZE SCHALE, HOHLER KERN: SUCHBILD MIT GRUFTI
Jetzt ist es offiziell: "Gothic Style [ist] Der beste Street-Style der Saison". Zumindest, wenn es nach dem allseits bekannten Modekonzern mit der knallroten Buchstaben-Kombi geht. Für seinen aktuellen Winter-Prospekt hat der schwedische Bekleidungs-Riese nämlich in die tiefsten Untiefen der marketinginternen Trick-Kiste gegriffen und spannt über ganze zwei Katalogseiten ein formidables Rätselbild auf.
Wir haben ein bisschen Gothic versteckt. Findest Du es?
Nun liegt es seit jeher in der Natur des Mystisch-Morbiden, sich dem ungläubigen Betrachter nicht gleich auf den ersten Blick zu enthüllen. Zumindest dieses subtile Merkmal der gotischen Gesinnung haben der Fotograf und seine Entourage mit ihrer Kampagne auf den Punkt genau getroffen.
Wie Sie sehen, sehen Sie nichts.
Ein Herr und eine Dame aus der Model-Retorte als mehr oder minder dekorativ platzierte Klone ihrer selbst. Mann trägt die 2015er Saubermann-Version des grungigen Cobain-No-Cuts auf dem Kopf; Stylinggel statt Eigenfett.
Prominenter Vorreiter dieser mittlerweile etwas angestaubten Frisuren-Tradition war in Deutschland übrigens Albrecht Dürer, im Selbstportrait bereits um 1500 mit ähnlicher Haarpracht inszeniert und in mittelalten Zeiten als provokanter Akt gesehen, war doch das nicht uneitle Bildnis des fränkischen Malerfürsten eine klare Referenz an die Christus-Ikonografie, die den Künstler auf diese Art und Weise in den Status des Gottessohnes erhebt.
Aktuell ziert das schulterlange Blondhaar übrigens, als alternativ-dekoratives Topping zu verstehen, den Schopf von Geigen-Jesus David Garrett.
Ob der fidele Fiedler die Antwort auf die drängende Gruftie-Frage wüsste?
Immerhin sehen die Klamotten der bleichen Kampagnen-Teenies ein bisschen so aus wie die Low-Budget-Version seiner sorgsam zerschredderten Bühnen-Kostümierung.
Auch die knöchelhohen Turnschuhe aus plastisch-elastischem Veggie-Leder würden im Klamotten-Arsenal des rheinländischen Bogenschwingers kaum überraschen.
Dass diese jedoch essentieller Bestandteil eines sogenannten "Gothic Styles" sind, war bis heute vermutlich nur wenigen Insidern bekannt. Selbige dürften wahrscheinlich auch wissen, was die dargestellten Jogginghosen zu 25 Euronen, altherrengraue Pullis in hautunfreundlichster Kunstfaser, weinrote Biker-Leggings oder gar karierte Flanell-Hemden in der gotischen Garderobe zu suchen haben. Besonders herzerwärmend: Das absolute Must-Have der Kollektion, ein dunkelgraues Sweatshirt mit wirr-fantastischer Freimauer-trifft-Kreuz-Symbolik.
Der typische Käufer dieser, nennen wir es ganz behutsam amüsanten Schweden-Ware hat zu 99,99 Prozent nicht nur die alle Jahre wiederkehrenden Ramones- oder Nirvana-Shirts der gleichen Marke im Schrank, sondern trägt auch noch freiwillig deren schauderhafte Lack-Boots spazieren, die geruchlich an frisch erworbene Autoreifen erinnern und selbst mit tausend Tonnen Tomaten auf den Augen nicht einmal ansatzweise so aussehen wie ihre englischen Vorbilder.
Wer ein eingefleischter Label-Lover ist, nimmt vermutlich gar nicht mehr wahr, dass er statt dem Schriftzug eines renommierten Sportartikelherstellers oder schniekem Italo-Schneider ein waschechtes Bandlogo auf der Brust spazieren trägt und bekommt den markigen Sound der vermeintlichen Lieblingsband höchstens mal als lästige Weghör-Musik in der Umkleidekabine serviert.
In einer Zeit ohne Geist, die die sinnentleerte Oberfläche feiert und nach etwaigen Inhalten gar nicht mehr fragt, ist das keine große Überraschung.
Alles ist irgendwie Mode, geht aber in den seltensten Fällen darüber hinaus. Junk-Food-Fashion für die Tonne; heute noch total hip, morgen schon wieder out. Genauso wie der vermeintliche Individualismus, der aus dieser fragwürdigen Interpretation eines "Gothic-Styles" spricht.
Menschen im an sich völlig unspektakulären Alltags-Klamotten-Mix sind plötzlich nicht mehr bloß Menschen in (immerhin) größtenteils dunkel gehaltener Kleidung, und die schwarze Jogginghose, sonst typisches Merkmal des samstäglich verspäteten Ich-Hab-Da-Was-Vergessen-Einkäuflers, katapultiert sich locker-flockig in den Mode-Olymp.
Der Gruftie-Begriff wird hier, nicht frei von Komik, in einem an sich völlig absurden Kontext angewendet; ohne dass den Schöpfern der Kampagne dieser recht offenkundige Widerspruch zwischen Bild und Text auch nur ansatzweise auffallen würde.
Das auf den ersten Blick absolut 06/15 wirkende Werbe-Foto verrät auf diese Art und Weise nicht nur, was sich ein konkreter Konzern und seine kaufkräftige Kundschaft dieser Tage unter "Gothic" vorstellen.
Es zeigt auch, wie Subkulturen dieser Tage von der entindividualisierten Masse wahrgenommen werden: Als sinnentleertes Modephänomen, das sich je nach Gusto mit beliebigen Inhalten füllen lässt; ein Begriff unter vielen, der irgendwie cool klingt und je nach Lust und Laune auch mal in glitzernden Lettern den Allerwertesten zieren darf.
So liefern die Fashion-Dummies das passende Sinnbild für ihre denkbefreite Haltung gleich mit: Was sich hinter dem als "cool" gelabelten Begriff verbirgt, geht ihnen im wahrsten Sinne des Wortes am A**** vorbei.
Schwarze Schale, hohler Kern.
An dieser Stelle sei noch einmal mit sprachlosem Schweigen an das grausame Schicksal des vormals rebellischen Punk erinnert, dessen schillernd-schreckende Totenkopf-Symbolik zuletzt fußballerfrauenkompatibel mit rosafarbenen Schleifchen verniedlicht und auf jene simple Formel reduziert wurde, die auch heute noch manchmal auf tussig-strassbesteinten Handy-Hüllen zu lesen ist:
"Punk Royal".
Im Zeitschriftenregal zuletzt die schreckliche Entdeckung, nur ein paar Wochen her: Ein Hochglanz-Magazin mit dem geradezu utopisch anmutenden Titel "Business Punk". Dass diese beiden Erzfeinde eines schönen Tages zu einer wahnsinnig-"edgy"-wirken-wollenden Wortkreation verwurstet werden würden, hätte man doch selbst im schlimmsten Albtraum nicht für möglich gehalten.
Wohin die seltsame Reise des "Gothic" Begriffs noch führen wird, will man da eigentlich schon gar nicht mehr wissen.
Fest steht nur, dass das G-Wort durch seinen inflationären Gebrauch langsam entzaubert wird. Wenn die Schweden-Kampagne demnächst auch noch großflächig plakatiert wird, ist "Gothic" vermutlich zum ersten Mal in seiner Geschichte überall.
Doch zu welchem Preis?
Natürlich sind Klamotten nicht wichtig. Obgleich der aufhaltsame Aufstieg der mittlerweile omnipräsenten Jakob-Wolfshaut-Jacke stutzig macht, zählt zunächst einmal der Mensch dahinter.
Trotzdem ist es irgendwie schade, dass Kleidung nur mehr in den seltensten Fällen auch mit einer spannenden Geschichte verbunden ist.
Bandshirt, Buttons oder zerrissene Jeans, letztere ebenfalls Teil der aktuellen Schweden-Kollektion, erzählen nicht zwangsläufig von lang ersehnten London-Fahrten, Konzertbesuchen oder dunkelbunten Ausflügen nach Camden Town, sondern zeigen eher, was in den angesagten Läden der Republik gerade zu haben ist.
Das alles stimmt nicht gerade fröhlich, aber trösten wir uns mit einer Weisheit von Altgruftie Martin L. Gore, der bereits vor gut 25 Jahren wusste: "Feelings are intense – words are trivial."
Lassen wir also der Werbung das Wort - und behalten wenigstens die damit verbundenen Gefühle für uns.
||TEXT: ANTJE BISSINGER | DATUM: 31.10.15 | KONTAKT | WEITER: WOLKE 4 - NEUE DEUTSCHE MITTELMÄSSIGKEIT >
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