2/20: DANGER IN DREAM, CELLULOIDE, MEI JUN BING, Ô PARADIS, RAIN TO RUST - AUS ALLEN ECKEN UND ENDEN
Ob nun elektronische Musik oder klassischer Rock: Kein Land kann mehr das Monopol eines Genres für sich behaupten. So wie früher, als die Briten ihren Beat, die Deutschen ihren Elektro-Pop und die Vereinigten Staaten ihre Country-Musik hatten, funktioniert das ganze nicht mehr.
[image:image-1]Beispielsweise entstammen die Klänge der Formation Danger in Dream aus der prunkvollen Stadt Wien. Doch wäre einem dieser Fakt nicht bewusst, man könnte "Iconic", ihr jüngst erschienenes zweites Album, auch einfach mal rund 35 Jahre zurückverfrachten und nach Berlin verorten. Denn ihre breit angelegten Instrumentale, die zwischen spacigem Weltraumgezische und redundanten Entspannungsmelodien mit einem Hauch Asia-Flair angesiedelt sind, lassen gleich Tangerine Dream oder Klaus Schulze vor dem geistigen Auge aufploppen. Tatsächlich bildet die Grundlage ihrer Kompositionen immer eine ansprechende Melodie, die sie stilvoll aus alten analogen Synthesizern rauskitzeln; besonders gut gelungen ist dies bei den beiden "Skylink"-Teilen, die angesichts der aktuellen Entwicklungen in der elektronischen Klangerzeugung auch locker als Synthwave-Produktionen durchgewunken werden können, wenn man die Beats noch etwas fetter gemacht hätte. In der Tat sucht "Iconic" den Brückenschlag zwischen Vergangenheit und Gegenwart, indem sie ihre Kompositionen über aktuelle Aufnahmeverfahren dann doch in die Jetztzeit transferieren. Damit gelingt ihnen das Kunststück, bei aller Verpflichtung für die Tradition nicht in starre Muster zu verfallen. Danger In Dream erwiesen sich bereits nach ihrem Debüt "Entrance" als beachtenswertes Duo. Mit "Iconic" verfolgen sie ihren Weg konstant weiter und suchen nach dem Traumhaften in der Musik. Gefährlich ist dieser Traum, wie es der Bandtitel andeutet, aber beileibe nicht, sondern einfach nur ausnehmend bezaubernd.
[image:image-2]Ihr Faible für analoge Elektronik haben sich auch Celluloide bewahrt, was sie wiederum in die Nähe deutscher Musiker, vornehmlich aus dem Düsseldorfer Raum bringt. Das französische Trio könnte sich aber, wären sie stramme Patrioten, auch auf die fulminante Jean-Michel-Jarre-Linie berufen. So lange wie Celluloide aber mittlerweile schon an den Schräubchen drehen (ihre erste Veröffentlichung erschien bereits 2002), können sie sich bald selbst als wegweisende Pioniere bezeichnen. Als sie nämlich ihren spröden Techno-Pop mit Commodore-64-Kante in Kombination mit französischen Texten auf die Menschheit losgelassen haben, stand dieser Retro-Sound noch niedrig im Kurs. Mittlerweile ist alt klingen aber chicer denn je und könnte daher die Veröffentlichung ihres neuesten Werkes "Futur antérieur" nicht besser gewählt sein. Viel verändert haben sie seit ihrem letzten Album "Art Plastique" vor rund sechs Jahren nicht. Allerdings merkt man dem immerhin schon sechsten Album doch eine deutliche Reife auf klanglicher Ebene an. Der stoische Gesang steht nun noch etwas krasser im Gegensatz zum knackigeren Beat. " Si Tu Renonce" und "Tant de place" sind hervorragende Beispiele für die neue Aufgeräumtheit in der Rhythmus-Abteilung. Damit einhergehend bildet sich auch eine stärkere Hinwendung zu klassischen Pop-Strukturen, sodass "Futur antérieur" auch den französischen Chanson eingedenkt - ein Faktum, das in den früheren Veröffentlichungen nie so deutlich wurde. Zweifelsohne zählt "Futur Antérieur" zu den besten Alben ihrer Karriere.
[image:image-3]Gleichsam aus Frankreich stammend ist Ben Le Millionaire. Naheliegend ist der Name seines Projektes nicht: 霉菌病 - Mei Jun Bing ausgesprochen. Übersetzt bedeutet es Mykose. Das ist eine Pilzkrankheit. Die hat Ben sich nach einer längeren Tournee durch Südostasien eingefangen. Chinesische Schriftzeichen, dortige Tourneen - der Mann scheint offensichtlich sehr oriental angehaucht. Tatsächlich lebt der Franzose der Liebe wegen in China, genauer gesagt in der Millionenmetropole Wuhan, die momentan durch den Ausbruch des Corona-Virus leider unrühmliche Bekanntheit erlangt. Vor Mei Jun Bing hat er sich rund zwei Jahrzehnte lang als DIY-Grindcorer versucht. Nun ist der Synthesizer sein favorisiertes Instrument. Seine Stücke, die er allein an den Maschinen erdacht und auf das selbstbetitelte Debütalbum zusammengefasst hat, atmen in ihrer Kratzbürstigkeit aber immer noch den Geist des Punk. Sägende Basslinien, eine verzerrt donnernde Stimme, schnelle Rhythmen - bei Mei Jun Bing erinnert alles sehr stark an den tiefschwarzen Fabriksound eines Thomas Lüdke, besser bekannt als The Invincible Spirit ("Love Is A Kind Of Mystery", "Push"). Doch ab "Interlude" hellt sich die Stimmung des Werkes etwas auf und wird geradezu orbital beim üppig klingenden "Civilization", das dann auch wieder ein bisschen den bereits oben erwähnten Jean Michel Jarre durchscheinen lässt. Man mag es gar nicht glauben, das Ben zuvor kein Album dieser Art herausgebracht hat. Selten klang ein Erstling zu gleichen Teilen reif und neu.
[image:image-4]Die Kunst besteht aber nun darin, den einmal gestellten Anspruch an seine Veröffentlichungen mindestens zu halten und im besten Fall noch zu übertreffen. Bei Ô Paradis ist eine Verbesserung gar nicht mehr möglich, weil Mastermind Demian Recio bereits mit seinen ersten Alben auf so einem hohen Niveau arbeitet, dass es da kaum noch Spielraum nach oben gibt. Seit 20 Jahren mäandert der Katalane durch aberwitzige Neo-Folk- und Post-Industrial-Landschaften, streut hie und da eine Prise Pop ein und lässt mit seinem warmen und gleichsam melancholischen Organ so etwas wie eine von der spanischen Sonne verwöhnten Tristesse mit einer Idee Surrealismus aufkommen. "Conversaciones Con Uno Mismo" beispielsweise wirkt wie ein dekonstruierter Latino-Schmachtfetzen, bei dem klappernde Hintergrundgeräusche und ein schleifender Beat die spannungsaufbauenden Antipoden zu Recios butterweichem Gesang bilden. Ähnlich wie die damals viel zu wenig beachtete Band Silence aus dem ehemaligen Jugoslawien, begibt sich auch Ô Paradis auf die Suche nach den unerwarteten Klängen, die sich von konfektionierten Tönen abheben wollen. Das Best-Of-Album "Verlo Pasar" ist trotz des offensichtlich dokumentarischen Charakters auch eine fesselnde Reise, die ganz unerwartete Richtungsänderungen bereithält. Man höre sich nur einmal "Cualquier Distancia" an: Was zunächst als Americana-Reduktion mit Sprechgesang durch eine Flüstertüte beginnt, geht in basssatte Beats über und endet in sakral anmutender Elektronik. Solche Kleinode finden sich zuhauf und offenbaren eine ungeahnte Wahrhaftigkeit in der Kunst dieses großartigen aber gleichsam zu wenig geschätzten spanischen Musikers.
[image:image-5]Einer der vielen weiteren geografischen Nebenschauplätze in Sachen Düster-Rock, die sich in den letzten Jahren hervorgetan haben, ist die Türkei. Das liegt nicht zuletzt an She Past Away, die in ihrer Muttersprache über minimalelektronischen Coldwave grummeln. Rain To Rust aus Istanbul verfahren etwas anders, gehen auf Nummer sicher und singen in international verständlichem Englisch. Mastermind Mert Yildiz setzt aber ebenfalls auf einen extrem anachronistischen Sound. Sein Gothic-Rock, den er für sein Debüt "Flowers Of Doubt" komplett selbst eingespielt hat, ist klassisch geprägt und mit deutlichen Referenzen an eine Zeit, in der dieses Genre sich gerade langsam aus dem Post-Punk herausbildet, aber noch keine stadienfüllende Angelegenheit war. Bands wie The Mission, New Model Army oder The Cure zählen sicherlich zu Merts musikalischer Sozialisation. Bereits der Titelsong hätte auch rund um das Jahr 1987 veröffentlicht werden können. Doch es nicht nur sein herrlich nostalgischer Blick auf eine vermeintlich vergangene Ära, die "Flowers Of Doubt" so wunderbar macht, sondern auch die Leichtigkeit, mit der Rain To Rust zu Werke geht. Keines der Stücke wirkt auch nur im Ansatz wie eine krampfige Nostalgieshow, sondern entwickelt sich organisch aus der Liebe zur Musik heraus. Dabei spielt es keine Rolle, ob der Mann aus Istanbul im Titelsong oder dem nachfolgenden "Drinking The Ghosts" den tanzbar-eingängigen Weg wählt oder wie bei "Burnt To Light" und dem abschließenden "For When It Hurts" ein wenig vrerträumt wirkt. In jeder Note steckt eine längst verloren geglaubte Authentizität, die einst die Szene so glaubwürdig machte. Tesekkür ederim!
||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 10.02.20 | KONTAKT | WEITER: FAREWELL ENGLAND - ABGANG MIT AUSKLANG>
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Webseiten:
dangerindream.bandcamp.com
www.celluloide.online.fr
meijunbing.bandcamp.com
www.facebook.com/oparadis.official
raintorust.bandcamp.com
Covers © Virtual Music (Danger In Dream), Boredomproduct (Celluloide), Other Voices (Mei Jun Bing), Nøvak Recs (Ô Paradis), Innsmouth Productions (Rain To Rust)
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