15/23: HIEMIS, VLIMMER, BRAUSEPÖTER, ROST UND KNOCHEN, TIGER LOU: HIER HERRSCHT EIN ANDERER TON
Kling & Klang > KURZ ANGESPIELT > 2023
Bereits 2018 hat das spanische Ambient-Projekt Hiemis sein Debüt "Nachtstücke" veröffentlicht und sich auf das gleichnamige Buch des deutschen Schriftstellers E.T.A. Hoffmann gestützt. Der Schriftsteller veröffentlichte den Erzählzyklus 1816 und 1817 in zwei Teilen. Zu diesem Zeitpunkt war Freuds Psychoanalyse noch ein ganzes Jahrhundert entfernt. Und doch schaffte es Hoffmann mit seinen bedrohlichen Schauergeschichten über Dämonen, beseelten Autommaten und anderen wunderlichen Geschöpfen, tiefsitzende Ängste zu triggern. Hiemis versuchte, ein musikalisches Äquivalent zu schaffen. Und welche Sparte für die Vertonung seelischer Zustände ist geeigneter dafür als Dark Ambient? Allerdings verwendet Hiemis nicht nur die überlagerten Drones, sondern baut auch kleine Melodien in die Klangfelder ein. Diese werden dann zwar redundant gehalten, lockern aber das gesamte Konstrukt deutlich auf. Da klingt in "Die Automate" ein selbstvergessenes Klavier und ein Windspiel, die in ihrer Kombination eine surrealistische Atmosphäre evozieren. In "Die Jesuiterkirche in G" steigt ein Cello die Tonleiter hinunter, während synthetische Chorgesänge einen Kontrapunkt bilden. Zerschnitten wird das sakrale Moment durch massive Bass-Drum-Schläge, deren untertöniger Bereich die gesamte Musik zum Zittern bringt. In seiner mystisch-unheimlichen Ausrichtung schaffen Hiemis' "Nachtstücke", sich an die literarische Vorlage heranzurobben. Es empfiehlt sich daher, Hoffmanns Werk in Kombination mit der formidablen Musik von Hiemis zu lesen. Es macht das teilweise beklemmende Gefühl der Erzählungen noch intensiver.
Seit jeher klaustrophobisch muteten die Werke von Vlimmer an. Mastermind Alexander Donat hat sich nach einer 18-teiligen EP Reihe zwischen 2015 und 2020 immer näher an den typischen Vlimmer-Sound herangegespielt. So richtig einordnen kann man ihn nicht, aber stets wird eine wohlige Atmosphäre des Unbehagens kreiert. Alexanders lamentierendes Organ ist die Potenzierung der stimmlichen Ausweglosigkeit von The Cures Frontmann Robert Smith, während seine Musik sich wie ein amorphes Gebilde wirkt, das alles aufsaugt, was die Schwarze Szene musikalisch zu bieten hat, um am Ende etwas völlig Eigenes zu kreieren. "Teerritt" dürfte das bislang poppigste Stück des Musikers sein, während "Platzwort" die Grandezza von Ultravox während ihrer Phase mit Midge Ure besitzt. Aber wie erwähnt: Das sind nur kurze tönerne Leuchtfeuer, die einem klar machen, wo sich der Musiker zu Hause fühlt. Doch was das wirklich Erstaunliche an Alexander ist: Dem Mann scheint die Energie und auch Kreativität nicht auszugehen. Das dritte Album in drei Jahren, daneben noch Veröffentlichungen als Fir Cone Children und Assassun - allein 2023 hat der Mann drei Veröffentlichungen rausgehauen. Während andere Musiker sich sichtlich schwer damit tun, neues Material zu präsentieren, das dann auch noch halbgar ist, veröffentlicht Alexander im Jahrestakt gleich mehrere Werke, die alle nah an der Perfektion angesiedelt sind. Es ist daher nicht übertreiben, zu sagen, dass der Musiker mittlerweile zu einem der wichtigsten Gothic-Akteure zählt. Mit "Zerschöpfung" untermauert er ein weiteres Mal seinen Anspruch, gehobene melancholische Musik zu machen. Wenn am Ende in "Austrocknung" der Musiker fragt: "Wie tief geht's noch runter?", kann man ihm nur zurufen: "Gar nicht, es geht steil bergauf!"
Diese Einschätzung hätte man auch gerne Brausepöter auf ihrem Weg geben wollen. Beziehungsweise: Man hat es. Als sich die Band 1978 gründete, lag die deutschsprachige Musik in einem radikalen Wandel. Angefixt vom Punk aus England, begannen auch hierzulande, Musiker (zumeist aus der Kunstszene stammend), Deutsch-Rock auf links zu drehen. Brausepöter waren mittendrin - aber trotz einiger auch medienwirksamer Auftritte, blieb die Band eine Randnotiz. Von der zunehmenden Kommerzialisierung der mittlerweile als Neuen Deutschen Welle gelabelten Strömung waren Martin Lück und seine beiden Mitstreiter derart angeödet, dass sie in den Sack hauten und die Band ad acta legten. Dank Internet wurde ihr in Vergessenheit geratenes Video "Bundeswehr" wieder in Umlauf gebracht und löste positive Reaktionen aus. Seit 2010 sind Brauspöter, immer noch in gleicher Besetzung, wieder unterwegs. Die Ost-Westfalen haben von ihrer unverblümten Angekotztheit seit ihren Anfangstagen nichts verloren. Nach ihrer EP "Tourist" wird auch "Ausserhalb" all jene abholen, die schon der Satz "Ich fühle mich von der Musik abgeholt" aufregt. Brausepöter sind nicht hip, vielleicht sogar anachronistisch. Aber genau diese Musik brauchen wir in dieser unserer Zeit dringender denn je. Dabei spielt es keine Rolle, ob Brausepöter im dubbigen "Auf dem Flur" eine flüchtige Begegnung eines alten Lebensgefährten beschreibt oder in "Leck mich am Arsch" ganz deutlich macht, was er von irgendwelchen Schwurblern oder Klimaleugnern hält. Die einzig ädaquate Reaktion: "Ich will euch nicht verstehen und kann euch nicht mehr sehen". Richtig so!
Es ist ein erschreckendes Bild, das sich das Duo Rost und Knochen für ihre EP "Liebe geht raus" ausgesucht haben: Ein verhungernder Eisbär, total abgemagert, steht auf einer kleinen Eisscholle, umgeben von Wasser. Eindringlicher können die Folgen des Klimawandels nicht in ein Foto eingefangen werden. Das Bild ist nicht einfach so ausgesucht. Es referiert auf den Song "Kein Eisbär", der sich musikalisch an den alten NDW-Klassiker "Eisbär" von Grauzone orientiert, während Rost und Knochen den Text unserer prekären Situation angepasst haben. "Ich möchte kein Eisbär sein am warmen Polar, ich würde dann nur noch schreien, alles viel zu warm." Der Song erinnert, auch dank der Stimme von Chris, an die Hoffnungslosigkeit diverser Nummern von Isolation Berlin. Durch einen weiteren textlichen Zusatz intensiviert das Duo diesen Eindruck: "Ich möchte lieber ein Mensch sein, dann hätt' ich die Wahl. Dann könnte ich auch mal sagen, mir ist alles scheißegal." Der Song funkelt so dermaßen hell, dass man das zweite Stück auf der EP "Liebe geht raus" fast vergisst. Obwohl "Liebeslied" nicht weniger einnehmend ist und die große Idee von Rost und Knochen offenlegt. Noch vor der Pandemie gegründet, war ihr erstes Album "Endlich Regen" stark in der Liedermacher-Tradition verwurzelt. Mittlerweile steht das Duo für einen elektronisch unterfütterten Punksound, den sie mit Bratsche und Drumcomputer zaubern. "Liebe geht raus" überrascht dabei durch eine ungehemmte Wut auf die Menschheit, die im Begriff ist, sich ihr eigenes Grab zu schaufeln, während die musikalischen Talente der beiden Männer ihrer Punk-Attitüde eine ansprechende Note verleihen.
Die jubilierenden Bläser zu Beginn des Albums "Acts" des schwedischen Indie-Pop-Projekts Tiger Lou klingen nach Aufbruch, Erneuerung, nach Durchstarten und Anlauf nehmen. "Wires" ist bezeichnend für die gesamte Stimmung des Werks, das Rasmus Kellermann erdacht hat. Dennoch besitzt die fünfte Platte von Tiger Lou sehr viel melancholische Momente, die sich aus der Lebenssituation des kreativen Kopfs herleiten lassen. 2017 ließ sich der Musiker von seiner damaligen Frau scheiden und war nun nicht nur mit zwei kleinen Kindern in der Verantwortung, sondern musste auch damit klar kommen, dass er wieder auf sich allein gestellt war. Das neue Leben, aber auch die Erinnerungen an Vergangenes kulminieren auf diesem fulminant zu nennenden Album, das Kellermann in einer Zeit schrieb, als die Musik die einzige Konstante für ihn war. Manchmal mag man sogar heraushören, wie sehr sich der Mann an seine Songs klammert. Gleichzeitig versteht er es, aus den dunkelsten Stunden wieder Mut zu schöpfen, was Stücke wie das dezent post-punkige "End Times" oder das explodierende, an Muse erinnernde "March Of Paloma" zu wahren Energieträgern macht. Wenn man sich dann aber doch mal gänzlich der Melancholie hingeben will, wird auch das mit großer Geste vollzogen. "Send The Bill" ist so eine Nummer, in der eine Pianolinie nach und nach von Synthesizer Arpeggios untermalt wird und in "Baccardi" fluffige Gitarren die Geschichte eines vermeintlich Gescheiterten fast schon ins Positive verkehren. "Acts" ist ein wunderbares Kleinod, das sich der Traurigkeit widmet, ohne dass sie komplett Besitz von ihm ergreift. Ein schmaler Grat, den Tiger Lou scheinbar mühelos zu beschreiten wissen.
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