ATOEM "ENTROPY" VS. KALIPO "WUT": KNIETIEF IN DER BASSSAUCE
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Fans und Freunde der elektronischen Musik können sich dieses Jahr nicht beklagen. Eine hochkarätige Scheibe jagt die nächste, und es scheint so, als habe man sich das Beste für die dunklen Monate aufbewahrt. Zumindest kann man "Entropy", das erste Werk des französischen Zweiergespanns Atoem, als ein bahnbrechend neues Stück Liedgut beschreiben.
Dabei betreiben Gabriel Renault und Antoine Talot keine Raketenwissenschaften, sondern setzen eigentlich nur das um, was ihr Albumtitel verspricht. Mit der Entropie wird in der Physik der Grad der Unordnung beschrieben - transferiert auf Atoems Musik tauchen wir in das scheinbare Chaos aus elektrischen Beats, Acid-Sequenzen, Rock-Gitarren und klassischem Schlagzeug. Darüber gibt es der Welt entrückt eingesungene Lyrics, die das Popversprechen einzulösen versuchen.
Was auf den ersten Blick so wirkt, als würde es hier zu viel von allen geben, entpuppt sich aber schnell zu einem schlau arrangierten Kaleidoskop elektronischer Möglichkeiten mit akustischer Begleitung. In erster Linie setzen Gabriel und Antoine natürlich alles auf Attacke. Trotz eines stets gemächlichen Tempos, massieren Songs wie "Sinking Ocean", "Lost Work" oder "Mode Erase" das Tanzbein aufs Vorzüglichste, während "Ride On Time" eine atmosphärische Synth-Wave-Ballade ist, durchzogen von großem Pathos.
"Entropy" gelingt es, bei der Vielfalt ihrer musikalischen Mittel, einen klaren roten Faden zu spannen, der vor allem in der musikalischen Historie ihres Heimatlandes begründet liegt. Mit andderen Wortern: Atoems Album kann nur so klingen, weil sie eben Franzosen sind. Und deren Liebe zur elektronischen Klangerzeugung ist schon seit vielen Jahrzehnten auf ganz eigenen Pfaden unterwegs. So schimmern bei "Les couleurs de son" die großen Chanson-Momente durch, bei der Instrumental-Nummer "Synthropy" erkennt man in den verwaschenen Sequenzen die Liebe zum sphärischen Electro-Pop, die vor allem in den 1970ern auch Frankreich sehr gut beherrschte ("Magic Fly" von Space als Speerspitze bildet dabei einen absoluten Höhepunkt aus dieser Zeit).
Die Vergangenheit ist bei "Entropy" aber nur der Durchlauferhitzer, der das Album zwar mit der Geschichte connectet, das cleane Design der insgesamt 14 Songs lässt aber nicht den geringsten Zweifel zu, dass wir es hier mit einem aktuellen Werk aus den 20ern zu tun haben. "Entropy" feiert die Schönheit der Unordnung und darf als ein weiteres Highlight in das ohnehin nicht ereignisarme 2023 sich einreihen.
In Sachen frickeliger und nonkonformer Elektronik tut sich mit schöner Regelmäßigkeit Jakob Häglsperger hervor. Als Teil der bayerischen Elektropunker von Frittenbude gehörte er zu den herausragenden Figuren der damals neu aufkommenden Neuen Neue Deutsche Welle (die mittlerweile seit einigen Jahren sogar ihre dritte Wiedergeburt erlebt). Sein Soloprojekt Kalipo frönt indes der minimalen Dunkelelektronik. "Wut" präsentiert den Musiker nun auf einem neuen Level.
Von einer reduzierten Musik ist zunächst erst einmal nichts zu hören. "My Symphony of Rage" eröffnet die EP mit einem großen Orchester, das auch als Soundtrack für "Babylon Berlin" hätte herhalten können. Es ist eine klar gezogene Linie, die Kalipo gegenüber seinen früheren Veröffentlichungen zieht. Dominierte zuvor eher die urbane Lässigkeit gediegener Housebeats mit Chill-Einlagen, erhalten nun plakative Melodien, bassverliebte Klangteppiche und straighte Beats den Vortritt.
Bei "Seeking Angels" verlässt sich der Musiker auf eine hypnotische Linie, die an Psyches "Unveiling The Secret" angelehnt ist, während Kalipo seine Texte wie durch eine verzerrende Flüstertüte singt. Sein Faible für die 80er, insbesondere für den spacigen Disco Sound, lässt sich an "Shinigami" und "Echoes Of The Past" deutlich ablesen. Schützenhilfe bekommt Kalipo in diesem Fall von Sängerin Joy Tyson, respektive von den Lokalmatadoren Local Suicide. Ihre Mitarbeit hat die beiden Stücke zu wahren Tanzbomben hochgelevelt. "Echoes Of The Past" wirkt dabei wie eine Verbeugung vor Giorgio Moroder, "Shinigami" lässt indes die Blütezeit des Italo-Disco wieder aufleben.
Dass der Mann aber auch sehr stark von den verschiedenen Strömungen der Techno-Musik beeinflusst worden ist, kann an "Bizeps" ausgemacht werden. Hier blubbert die Sequenz vor sich hin, dass es eine Art hat, während primitive Trompetenimitationen an die Anfangstage der Computermusik erinnern. Ein roher, ungeschliffener Diamant, den der Wahlberliner hier zu Tage gefördert hat.
Die Liebe zu dekadent-hedonistischen Sounds, der verstohlene Blick in Richtung EBM und Rock, und eine unüberhörbare Liebe für alles, was aus den 80ern kommt. Atoem und Kalipo geben sich unverhohlen als Freunde früher elektronischer Musik aus. Anstatt sich aber sklavisch an alte Ideen zu klammern und nur reproduktiv zu handeln, pressen sie bekannte Sounds in neue Ideen und verhelfen der Musiksparte, dass sie nicht sich selbst überlebt.
||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 03.10.23 | KONTAKT | WEITER: PUBLIC SPEAKING VS. ALICE DOES COMPUTERMUSIC>
Webseite:
www.atoemmusic.com
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COVER © Yotanka Records/PIAS (Atoem), Iptamenos Discos(Kalipo
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© || UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR | IM NETZ SEIT 02/04/2014. ||
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