ENNO SEIFRIED: "ICH MAG DEN CHARME DES MORBIDEN" - UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR

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ENNO SEIFRIED: "ICH MAG DEN CHARME DES MORBIDEN"

Im Gespräch

Enno, in Deinen Filmen besuchst Du die Ruinen unserer modernen Zivilisation und spürst deren Geschichte(n) auf. Was fasziniert Dich an diesen verfallenen Bauten?
In erster Linie mag ich den Charme des Morbiden. Wenn ich irgendwo am Straßenrand ein verlassenes Gebäude sehe, zieht es mich einfach magisch an und ich will herausfinden, was sich hinter den Mauern verbirgt. Zu wissen, dass ein Gebäude oder ein Ort schon längere Zeit ungenutzt oder sogar schon lange von keinem Menschen mehr betreten wurde, übt einen besonderen Reiz auf mich aus. Wenn ich eine solchen Ort betrete, stelle ich mir immer die Frage, wie es hier wohl war, als dort noch Leben herrschte. Diese Neugier hat mich auch dazu gebracht, mich mit Zeitzeugen zu treffen, die mir aus ihren Erinnerungen erzählen können. Ihre Geschichten zu diesen so genannten Lost Places sind am Ende auch das, was mich an der ganzen Sache am meisten interessiert.

Gab es ein Schlüsselerlebnis, das Deine Passion für dieses Thema aufblühen ließ?
Nein. Ich kann mich an kein besonderes Ereignis erinnern. Meine Kindheit verbrachte ich im Leipziger Osten. Da boten sich schon damals die teilweise heruntergekommenen Straßenzüge der Stadt als die besseren und vor allem spannenderen Spiel- und Abenteuerplätze an. Später waren es die illegalen Partys, die in den Kellern der Industrieruinen am Wochenende gang und gäbe waren. Diese Orte begleiten mich also eigentlich schon mein Leben lang
mit dem Unterschied, dass ich heute eine Kamera dabei habe und Menschen befrage, um die Geschichten und die Orte zu bewahren.

Apropos Illegalität: In Deinen Filmen begleitest Du auch Geo-Cache-Gruppen, also Menschen, die solche Gebäude aufsuchen, um es zu durchforsten. Inwieweit bewegt man sich da auch an der Grenze zur Straftat?
Wenn man ohne Erlaubnis des Eigentümers ein leerstehendes Gebäude betritt, befindet man sich eigentlich nicht mehr nur noch an der Grenze zur Illegalität. Allerdings ist bei vielen Bauten auch gar kein Eigentümer auszumachen, die Besitzverhältnisse sind unklar oder es ist das Überbleibsel einer Insolvenz. Wenn dann noch alle Türen und Tore offen stehen, und der Eindruck entsteht, dass der Eigentümer gar nicht daran interessiert scheint, sein Gelände zu schützen und abzusichern, fühlt sich das schon beinahe wie eine Einladung an.

Davon mal abgesehen sehen viele dieser leerstehenden Fabriken und Häuser aber nicht mehr so stabil aus...
Bei den stark verfallenen Gebäuden begibt man sich natürlich auch hin und wieder in Gefahr, vom zweiten Stockwerk innerhalb von Sekunden in den Keller zu verschwinden.

Ist Dir so etwas auch schon passiert?
Natürlich! Zweimal bin ich schon in ein dunkles Loch gefallen; habe mir die Beine und eine Kamera dabei demoliert. Aber von schlimmeren Ereignissen blieb ich bis jetzt zum Glück verschont.

Beeindruckend war natürlich der Film über die Ruinen mitten in Leipzig. Wie ist es, wenn man aus einer "lebendigen" Stadt in ein "totes" Gebäude geht? Ist das wie ein Übertritt in eine andere Welt?
Ja, irgendwie schon. Wenn man durch die Tür schreitet und plötzlich nichts mehr von dem schicken, trügerischen Bild einer modernisierten Stadt zu sehen ist, fühlt sich das ziemlich abgefahren an. Von einem Augenblick zum nächsten ist man allein mit dem Geruch von Schimmel und der Ruhe, die in so einer Ruine meist herrscht. Keine Spur mehr vom Trubel zwischen Auto- und Menschenmassen, man kommt sich unbeobachtete und unbemerkt vor
ein ganz eigenes Gefühl von zeitlich und räumlich begrenzter Freiheit.

Zuletzt hast Du Dich mit deinem Team mit den "Lost Places" im Harz beschäftigt – ein Film, den Ihr über Crowdfunding finanzieren konntet. Die erforderliche Summe habt ihr seinerzeit bei Weitem übertroffen. Was war das für ein Gefühl, so viele Anhänger und Gönner im Rücken zu wissen?
An dieser Stelle sei erwähnt, dass wir nicht den Film an sich über Crowdfunding finanziert haben. Die Kosten für die Produktion habe ich komplett selbst getragen und von dem Geld finanziert, welches durch die Einnahmen vorangegangener Projekte oder durch meine Arbeit am Theater oder andere freiberufliche Jobs erwirtschaftet wurde. Über das Crowdfunding finanzieren wir die Veröffentlichung des Films und das Premierenwochenende. Das kostet nämlich immer einen ganzen Batzen Geld. Tausende von Euro fallen da an, die ich alleine nicht aufbringen könnte. Auch ist die angegebene Summe der Crowdfundingaktion nicht die tatsächlich benötigte Summe. Ich setze das allerdings lieber etwas niedriger an und würde bei einem knapp erreichten Crowdfundingziel versuchen, den benötigten Restbetrag an anderer Stelle zu besorgen, in der Hoffnung ihn später refinanzieren zu können. Bei meinem ersten Projekt im Jahr 2012 hatte ich 6000 Euro als Ziel angegeben. Erreicht hat die Aktion das Doppelte und das hat noch nicht mal gereicht um wirklich alle anfallenden Kosten zu tragen, von einem Gewinn aus der Aktion ganz zu schweigen.

Aber davon mal abgesehen, ist es natürlich ein unbeschreibliches Gefühl, wenn man mehrere Jahre in ein Projekt steckt und dann mit derart positivem Feedback, wie beim ersten Teil von
"Vergessen im Harz", belohnt wird. Ich war mir damals unsicher, ob der Film außerhalb meiner Heimatregion ein Erfolg werden würde. Und dann hat er alle vorangegangenen Filmprojekte mit Abstand übertroffen! Das war vor allem die Bestätigung, intuitiv alles richtig gemacht zu haben. Für diese Feedback bin ich den Gönnern und Unterstützern meiner Projekte auch unheimlich dankbar. Kürzlich ging ja die Crowdfundingaktion für den zweiten Teil von „Vergessen im Harz" an den Start. Ich bin gespannt, wie die Resonanz diesmal aussehen wird. Das ist ja immer so eine Sachen mit zweiten Teilen.

Inwieweit unterscheiden sich die vergessenen Orte im Harz von jenen in Leipzig?
Während man in Leipzig vorwiegend Industrieruinen vorfindet, sind es im Harz vor allem verlassene Sanatorien, Hotels und Pensionen. Da gibt es also schon einen Unterschied. Aber auf mich übt alles den gleichen Reiz aus. Egal, um was für einen Ort es sich handelt, ich will die Geschichte dahinter erfahren und die ist eigentlich immer spannend.

Wie sehr ist man bei solchen Dreharbeiten auf die Hilfe der ansässigen Bevölkerung angewiesen?
Bei den Filmen in Leipzig war das eigentlich gar kein Thema, da ich die Stadt wie meine Westentasche kenne und wusste, wo sich die Orte befinden. In der eigenen Region kennt man natürlich auch mehr Leute, die man fragen kann, wenn es um die Recherche und das finden von Zeitzeugen geht. Im Harz war das schon anders. Da war ich sehr auf die Hilfe der ansässigen Bevölkerung angewiesen, die mir mit Tipps zu den verschiedenen Locations, oder bei der Suche nach Recherchematerial und Interviewpartnern aushalfen. Die meisten Menschen waren unserem Projekt gegenüber sehr aufgeschlossen und freuten sich, wenn sie irgendwie helfen konnten.

Wie beginnt man die Recherche für solche Filme? Wo fängt man an, wo hört man auf?
Erst einmal die Orte suchen. Im Harz sind wir dazu einfach hingefahren und haben jeden Straßenzug und Waldweg nach verlassenen Gebäuden abgesucht. Danach beginnt die eigentliche Recherche und das Suchen von INterviewpartnern zu den auserwählten Orten. Das ist schon alles sehr zeit- und auch kostenintensiv. Ein Ende findet sich eigentlich nur, indem man sich eine Deadline setzt. Ich glaube, ohne einen selbst veranschlagten Abgabetermin würde ich ewig an so einem Film basteln und immer wieder etwas finden, was noch zu verbessern ist.

Viele dieser Gebäude besitzen eine ungewisse Zukunft, stehen vielleicht sogar vor dem Abriss. Wie sehr schmerzt Dich das?
Natürlich ist es traurig, wenn ein Gebäude dem Erdboden gleichgemacht wird, über das man zeitaufwendig recherchiert hat. Irgendwie wachsen einem verschiedene Gebäude und Orte richtig ans Herz. Aber trotzdem sehe ich das nicht so eng und ich bin auch nicht den Tränen nahe, wenn ein Gebäude in sich zusammenfällt oder dem Abriss zum Opfer fällt. Das ist der Zahn der Zeit. Dinge verändern sich, Dinge verschwinden, Dinge entstehen neu. Und wenn sie verschwunden sind, gibt es ja immer noch die Dokumentarfilme, in denen ein Stück des Ortes bewahrt wurde.
Für viele der so genannten Urbexer kommt ein Abriss einem Weltuntergang gleich. Natürlich ist es schade, wenn Vandalen alles kurz und klein schlagen oder wenn ein historisches Gebäude abgerissen wird, aber das ist unumgänglich sobald ein Bauwerk über einen langen Zeitraum sich selbst überlassen ist.

Setzt Du Dich auch politisch für den Erhalt solch moderner Relikte ein?
Mit meiner Arbeit möchte ich die Orte und ihre Geschichten dahinter bewahren. Das ist mein Teil, den ich dazu beitrage. Auch die Filmpremieren finden immer an solchen Lost Places statt. Eine derartige Veranstaltung ruft jene Gebäude wieder auf den Plan und weckt eventuell das Interesse bei einigen Besuchern, eine Zukunftsvision für den Ort zu kreieren. Aber ansonsten – nein! Wenn mein Ziel die Rettung von irgendetwas wäre, würde es sich dabei sicher nicht um Gebäude aus Stein, Beton und Eisen handeln. An erster Stelle würde ich Tier und Natur vor dem Menschen retten.


||INTERVIEW:  DANIEL DRESSLER  | DATUM: 12.03.16 |   KONTAKT |  WEITER: QUO VADIS DAVE GAHAN UND MARTIN GORE? >



Website:
www.lostplace-dokfilm.de


Crowdfundingaktion:
www.visionbakery.com/VergessenImHarzII


FOTOS © MINE SEUMEL
COVER
© OVERLIGHT

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