3/22: PIA FRAUS, VONAMOR, THE LAST HOUR, THE BIRTHDAY MASSACRE, J:DEAD - (ALB)TRAUMHAFT SCHÖN
Kling & Klang > KURZ ANGESPIELT > 2022
Süßer die Jugend nicht schmecken kann. Pia Fraus aus Tallinn besinnen sich auf ihrem neuesten Album "Now You Know It Still Fells The Same" dieser Unbekümmertheit. Und zwar haben sie ihr erstes Album "Wonder What It's Like", das anno 2001 erschienen ist, einfach noch mal neu eingespielt. Ursprünglich sind diese Songs in ihrer Anfangsphase entstanden, als sich Pia Fraus aus sechs Kunststudenten von gerade mal 16 Lenzen gebildet hatten. Ihre Sounds, bestehend aus Dreampop und Shoegaze mit männlich-weiblichem Mischgesang, vermag bereits in der Original-Version zu zünden, wobei natürlich - und die Band gibt es selbst in einem gechriebenen Statement auf der Rückseite der CD zu - die handwerklichen Fähigkeiten noch nicht so ausgeprägt waren, wie sie es jetzt sind. Der jugendliche Vibe jedoch, diese "Hoppla, jetzt komme ich" Attitüde ist aber auch in der neuen Einspielung immer noch deutlich hörbar. Schließlich bringt es der neue Albumtitel auf den Punkt: Es fühlt sich immer noch gut an, auch 23 Jahre nach der Gründung, Musik zu machen. Und diese gibt in "How Fast Can You Love", "Moon Like A Pearl" oder dem überschwänglichen "Bla (Morning Hue)" den Hörern das Versprechen, dass auch mit fortschreitender Zeit und der Anhäufung von Jahren man immer noch die Träume der Jugend in sich trägt. Es gilt lediglich, sie mal zu betrachten und sie vielleicht hie und da auch zu verwirklichen. Zu spät ist es dafür nie. Pia Fraus macht uns dies mit ihrem neu eingespielten Debüt mehr als deutlich. Eine stimmungsvolle Platte, so herrlich leicht wie der erste warme Frühlingstag nach einem schweren, eisigen Winter.
Immer wieder passiert es, dass die schreibende Zunft an Alben verzweifelt. Gründe gibt es dafür viele: Das Werk ist einfach nur unter aller Kanone oder es ist so wunderbar, aber stilistisch nicht einzuordnen - so wie bei Vonamor. Das italienische Projekt hat ein sehr spannendes, selbstbetiteltes Debüt herausgebracht. Da nun der
gemeine Musikjournalist stets bestrebt ist, die Musik zu kategorisieren, um dem Leser darauf vorzubereiten, was ihn erwartet, gelangt er bei "Vonamor" recht schnell an seine Grenzen. Denn man kann das Album zwar in groben Zügen dem Post-Punk oder Darkwave zuordnen, aber das beschreibt nicht annähernd die Atmosphäre der Stücke. Denn bei "Vonamor" geht es wild durcheinander, sowohl musikalisch, als auch sprachlich. Die Songs werden nur noch lose von Strophe-Refrain-Strophe-Konstruktionen gehalten, die von zum Teil verhallten Gitarrenparts und vertrackten Beats sowie englischen, italienischen oder auch französischen Texten gefüllt werden. In manchen Momenten erkennt man den klanglichen Ennui von The XX, doch so aufwühlend wie in "Forward Girl" würden genannte Vorbilder nie geklungen haben. Vonamor werfen Traditionen tonnenweise über Bord, behalten nur noch das Post-Punk-Gerippe und setzen es ganz neu zusammen. Vielleicht ist seit langem mal wieder dieser Begriff angebracht: Avantgarde. Vonamor sind fortschrittlicher Dark-Wave, anspruchsvoll und voller expressionistischer Bilder. Sicherlich nichts für die Disse umme Ecke. Aber für den sophistischen, musikalisch beschlagenen und interessierten Melancholiker ein wunderbares Album, das mit jedem erneuten Hören ein weiteres Geheimnis preis gibt.
Ebenfalls aus Italien stammend, aber schon einige Zeit länger im Musikzirkus angestellt, ist Roberto Del Vecchio, der unter dem Alias The Last Hour den Hörern etwas kredenzt, dass er als Post Cold Darkwave bezeichnet. Im Grunde genommen setzt der Musiker lediglich sehr breite Synthesizerflächen mit einem somnambulen, mit viel Echo ausgestatteten (Sprech)Gesang zusammen. Das Ergebnis auf dem aktuellen Album "Black Eyes" ist dennoch berauschend. Bereits das 2014 veröfffentlichte (und auch von der Redaktion äußerst positiv aufgenommene) "Deadline" hat del Vecchios Liebe für schummrige Sounds offenbart. Dieses Mal hat er sich versierte Verstärkung geholt. Carlo Baldini, ein ebenfalls enthusiastischer Musiker, hat gemeinsame Sache mit del Vecchio gemacht und The Last Hour mit seinem Bassspiel und Synthie-Modulationen bereichert. So erhält "It All Falls Apart" einen noch düsteren Anstrich, und das Instrumental "Parallel Universes" wird durch sein Zutun zu einem in den Bann ziehendes Stück, das ganz ohne Text Bilder im Kopf entstehen lässt. Im Gegensatz zu dem etwas übersteuert klingenden Vorgänger hat der Musiker auf "Black Eyes" jetzt den richtige Mischung gefunden, sodass die Songs zwar immer noch üppig arrangiert klingen, aber niemals überladen. So wird die mentale Reise, die das Album anstrebt, ohne Störgeräusche absolviert. Oder wie es The Last Hour selber definieren: "'Black Eyes' is a portal towards the innermost cosmic spaces, parallel universes, dystopian and mirror worlds." Und nur allzugerne möchte man dieses Portal aufschlagen. Erneut ein gelungenes Album.
Das mit der schönen Regelmäßigkeit hat auch die kanadische Formation The Birthday Massacre gut drauf. Denn nach dem noch etwas zögerlichen, leicht orientierungslosen Debüt "Nothing And Nowhere" von 2002, wurde mit dem drei Jahre später veröffentlichten "Violet" der Sound der Band manifestiert: Ein prickelnder Synth-Rock mit perlenden Melodien aus den elektronischen Instrumenten und krachigen Gitarrenriffs. Dazu singt Chibi mal als unschuldige Lolita, mal so, als sei der Leibhaftige in sie gefahren. Komplettiert wird der Eindruck auch durch den Manga-Emo-Look aller Mitglieder. Nun also, nach mehr als 20 Jahren, sind "The Birthday Massacre" immer noch da. Und das neue Album - wen wundert's - klingt so, wie man sich eine TBM-Platte eben wünscht. Den Reigen eröffnet der Titelsong, der wie Sternenregen aus den Boxen tönt. Und mit dem nachfolgenden "Dreams Of You" offeriert die Band einen veritablen Club-Hit, der mit sattem Sound im Refrain aufwartet. Insgesamt geben sich The Birthday Massacre auf "Fascination" sogar recht handzahm. Die Zeiten, wo Chibi mit dämonischer Stimme den Songs etwas albtraumhaftes verliehen hat, scheinen endgültig vorbei. Vielleicht würde das nach mehr als 20 Jahren Musikbusiness auch nicht mehr authentisch klingen. Dafür haben sie bei "Cold Lights" die aktuellen Synth-Wave-Strömungen für sich entdeckt und sie in ihren Klangkosmos eingebaut. Ja, sie klingen zwar erwartbar, aber dennoch macht "Fascination" ihrem Namen alle Ehre. Die Songs zünden einmal mehr, weil ihr Sound einfach so einmalig ist. Daher: unbedenkliche Kaufempfehlung.
Das gleiche gilt auch für J:Dead, der in Sachen elektronischer Musik mit tiefschwarzer Grandezza die eigene Meßlatte mit seinem beachtlichen Debüt "A Complicated Genocide" in recht luftige Höhen gelegt hat. Doch diese kann der Brite, der bürgerlich Jay Taylor heißt, locker mit seiner neuen EP "Vision Of Time" erreichen. Das liegt zuförderst an seiner kraftvollen Stimme, die sich im Einklang mit einer satten Produktion befindet und damit den Synthie-Pop-Songs eine majestätische Melancholie verleiht. Dabei spielt es für ihn keine Rolle, ob es sich wie bei "Evil In A Bottle" oder "Hold Tight" um eher gemächlichere Stücke handelt, oder wie in "Afraid" und "I'll Wait" die BpM-Zahl deutlich nach oben geschraubt wird. Jay fühlt sich in jeder Stimmungs- und auch Tonlage wohl. Auch wenn ihm der große Auftritt seines Organs am Herzen liegt, kann er auch in manchen Momenten nur durch Flüstern für Aufmerksamkeit sorgen oder mit heiserem Schreien die Ausweglosigkeit auf die Spitze treiben ("Whole" bietet in diesem Fall das beste Anschauungsmaterial). "Vision Of Time" ist zweifelsohne für den Tanzboden konzipiert, und die Remixe ergänzen das bereits superbe Material um einige Facetten. "Whole" im Life Cried Remix, The Saint Pauls Versuch, so viel Popappeal wie nur möglich aus "Hold Tight" herauszuholen und "Afraid" in der Neubearbeitung von Nature Of Wires gehören dabei zu den Glanzlichtern der Neuinterpretationen. Man darf gespannt auf das neue Album sein, das bestimmt nicht mehr lange auf sich warten lässt. Bis dahin ist "Vision Of Time" ein mehr als guter Zeitüberbrücker.
||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 17.02.22 | KONTAKT | WEITER: WHITE LIES "AS I TRY NOT TO FALL APART">
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