RASKOLNIKOV "LAZY PEOPLE WILL DESTROY YOU" VS. VIAGRA BOYS "COMMON SENSE": VORARBEITER AUS DER ABTEILUNG ATTACKE - UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR

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RASKOLNIKOV "LAZY PEOPLE WILL DESTROY YOU" VS. VIAGRA BOYS "COMMON SENSE": VORARBEITER AUS DER ABTEILUNG ATTACKE

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Der Belesene weiß sofort Bescheid: Raskolnikov ist der Nachname des Protagonisten aus Fjodor Dostojewskis Roman "Schuld und Sühne". Es handelt sich dabei um einen ärmlichen Studenten, der sich - grob zusammengefasst - mit der Welt auseinandersetzt und ihren Sinn zu verstehen versucht. Und welcher Musiker - oder allgemeiner gefasst: welcher Künstler - versucht nicht, durch sein Schaffen der Welt einen Sinn zu verleihen oder zumindest die bestehende Weltordnung zu hinterfragen?

Dass das schweizerisch-französische Trio also mehr auf dem Kasten haben muss, als manch ihrer Kollegen, lässt sich nicht nur vom Bandnamen ableiten, sondern auch von den Songtiteln, die in unterschiedlichen Sprachen verfasst sind, während die Songs selber sich des allgemein verständlichen Englischs bedienen. Schon ihr Debüt "Hochmut kommt vor dem Fall" besitzt Nummern mit so kruden Beschriftungen wie "Hunde sind an der Leine zu führen" oder "Poddanie Bezwarunkowe".

So enigmatisch die Songtitel, so transparent der Raskolnikov-Sound. Ätherisches Saitenspiel mit Schuhstarrer-Potenzial, prägnante Rhythmik, pointierte Elektronik und eine eindringliche Stimme, bei der in jeder Note ein "carpe diem" mitzuschwingen scheint. Diese Form des ätherisch aufgeladenen Post-Punk gab es schon einmal in ähnlicher Form.  Und zwar bei She Wants Revenge. Doch das amerikanische Duo hat Mitte der 00er Jahre schnell in den Sack geahuen, als nach einem überragenden Debüt nur noch ein mittelmäßiges zweites Album folgte - ehe sie sich 2011 mit ihrem müden Drittling "Valleyheart" musikalisch selbst zu Grabe getragen haben.

Bei Raskolnikov verläuft die Kurve erfreulicherweise andersrum. War das Debüt an manchen Stellen noch etwas roh und orientierungslos wirkend, bietet "Lazy People..." eine klare Vorstellung davon, was die Jungs um Sänger Mathieu Pawelski-Szpiechowycz ausdrücken wollen. Außerdem vollziehen sie innerhalb ihres Albums so etwas wie eine Öffnung hin zu einer freieren Auslegung dessen, was man gemeinhin als Post-Punk bezeichnet.

Geht bei "Fall Colours" noch alles seinen vorhersehbar schummrigen Weg, schielt bereits "No Safety Word" auf tanzflächentauglichen Klampfenklang, den sie in einem konstanten Fluß halten und somit im weitesten Sinne auch den psychdelischen Kraut-Rock eingedenken. Dieses Ideenspiel führt die Gruppe bei "Вий (Vij)" weiter - was immer auch der Titel bedeuten soll, ehe sich "Sisyphos" komplett einer dröhnenden Wall Of Sound hingibt, die von einem angezogenen Tempo gnadenlos durch die Lautsprecherboxen gejagt wird und "Sold Dead Souls" mit einer ganz feinen Synthielinie punkten. Vielfalt ist Trumpf bei den Jungs.

Spätestens hier herrscht Einigkeit über das Talent und die Stärke von Raskolnikov, die die oben genannten She Wants Revenge beerben und erfolgreich da weiter machen, wo die Amerikaner aufgehört haben, um sich in die Belanglosigkeit zu spielen."Lazy People Will Destroy You"? Eher schlägt das Dreiergespann die faulen Menschen mit ihren Sound in die Flucht, ehe die nur irgendeinen Schaden anrichten können.

Sollten sich dann aber immer noch ein paar von diesen ungeliebten Subjekten in der Nähe aufhalten, können die Viagra Boys aus Schweden schlussendlich für Ruhe sorgen. Bezihungsweise: für Krach. Denn dieses Sextett ist eine so erfreuliche Ausnahmeerscheinung, dass es den Autor dieser Zeilen schon wieder wurmt, sie nicht schon früher kennengelernt zu haben.

Ihr Ruf ist bereits nach ihrem Debüt "Street Worms" mehr als exzellent. Hitproduzent Nile Rodgers beispielsweise hat sie aufs Meltdown Festival eingeladen; es gab den Impala Preis für das "beste europäische Indepndent Album des Jahres". Dieser Überschwang ist in keinster Weise übertrieben oder ein künstlich herbeigeführter Hype irgendwelcher chuckstragender Hipsters, sondern Ausdruck purer Freude über eine Band, die so ganz anders ist als alle anderen.

Die Viagra Boys, das lässt schon ihr Name vermuten, besitzen einen beißenden musikalisch-textlichen Witz, ähnlich der Bloodhound Gang (dieser macht sich auch auf ihrer herrlich gestalteten Internetseite bemerkbar, die jeder Computernerd goutieren sollte). Zudem krempeln sie unser aller Hörgenwohnheiten auf links, indem sie sich mit etwas Elektronik, viel Schrammelgitarren und einem quäkenden Saxofon bewaffnen, um den auditiven Frontalangriff auf unsere Trommelfelle auszuüben. Vor allem aber ist es Sänger Sebastian Murphy, der, wie es der Pressetext herrlich umschreibt, "schuldbeladenes Crooning" praktiziert. Irgendwo zwischen den wilden Auswüchsen von Mando Diao (als sie noch relevant waren), und den baritonösen Streicheleinheiten eines Sivert Høyem steht der volltätowierte Murphy und scheint mit jeder Silbe ein in aller Freundschaft gekrächztes "Fuck you!" dem Hörer entgegenzuschleudern.

Nach "Street Worms" agieren sie auf "Common Sense" erwartbar unerwartbar. Aus dem schroffen Punkzauber des Erstlings erwächst im Titelsong ein insgesamt flächiger Wave-Sound, an dem sich ein Saxofon genüsslich und quietschvergnügt ausbreitet. Doch ist diese Nummer nur eine Finte und die sprichwörtliche Ruhe vor dem Sturm, den "Lick The Bag" nachfolgend auslöst. Stoisch treiben Schlagzeug und Bass den Song nach vorne, abgebrissener Electro-Sound mit finalem Amokabgang und zusammengeschrammelte Gitarren tragen den Sänger, der fast schon gar nicht mehr weiß wohin mit seiner Energie. Das hat Größe, ist so herrlich kaputt aber nie hoffnungslos, sondern eben auch immer mit einem Grinsen versehen.

Anscheinend haben die Viagra Boys auf ihrem Debüt erst einmal austariert, was generell möglich ist. "Common Sense" geht von dort aus weiter und experimentiert in verschiedenste Richtungen. Ein angedachter Mambo-Sound im perkussiv auffälligen "Sentinel Island" hält ebenfalls Einzug in den Klangkosmos der Viagra Boys, wie auch ein leiernder Lo-Fi-Blues der abgefucktesten Sorte - verschleppter, körniger Rhythmus inklusive - beim Rausschmeißer "Blue". Man hat das Bild eines angetrunkenen Mannes vor Augen, der beseelt zu dieser Loserballade wankt, die Whiskyflasche eng umschlungen, die Augen geschlossen. Besser kann die EP nicht enden.

||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 01.04.2020 | KONTAKT | WEITER: THE BIRTHDAY MSSACRE VS. BLACKIEBLUEBIRD>

Webseite:
raskolnikovmusic.bandcamp.com
www.vboysstockholm.com

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COVER © MANIC DEPRESSION RECORDS (RASKOLNIKOV), YEAR 0001/ROUGH TRADE (THE VIAGRA BOYS)

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