3/23: "ZEITGEIST +", "FROM ABOVE 3", "DURCHSTRÖMUNGEN 2", "GRENZWELLEN ELF": GROSSER RUNDUMSCHLAG - UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR

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3/23: "ZEITGEIST +", "FROM ABOVE 3", "DURCHSTRÖMUNGEN 2", "GRENZWELLEN ELF": GROSSER RUNDUMSCHLAG

Kling & Klang > KURZ ANGESPIELT > 2023
Unter dem Moniker "Zeitgeist" veröffentlicht das Label Cold Transmission in unregelmäßigen Abständen Aktuelles ihrer Schützlinge, blickt aber auch über den Tellerrand hinaus, um neue, interessante Künstlerinnen und Künstler aufzuspüren. Nach der 15. Ausgabe folgte mit "Zeitgeist Chrome" eine elektronischere Zusammenstellung. Nun also heißt es "Zeitgeist +" - und das verwendete Pluszeichen im Titel deutet darauf hin, dass es dem Label wichtig ist, den Zeitgeist nicht nur aufzuspüren, sondern ihn zu antizipieren. Denn auch bei dieser Ausgabe geht es den Machern darum, Projekten und Kunstschaffenden, die noch relativ jung sind, eine Plattform zu geben. Sicherlich dürfte S Y Z Y G Y X die bekannteste unter den insgesamt 17 Bands sein; ihr "Maniac" hält, was der Titel verspricht. Doch die eigentlichen Stars sind eben die noch unbekannten Namen, die man sich aber schnell merken sollte. So prischt "Delavée" von Hanging Gardens mit einer hypnotischen Bassdrum nach vorne, während Synthie-Arpeggios die an Anne Clarke und Sara Noxx erinnernden Sprechgesang tragen. Auch The Red Dots beleben mit "A Glimpse Of Tears" den Indie-Dance-Sound der frühen New Order. "Golde Age Of Carnage" von Plague Pits dealt heftig mit der Klangästhetik diverser Elektro-Pop-Nummern aus den frühen 1980ern. Gelungener Schlusspunkt des Samplers bildet "Spirit Of Ecstasy" von Sad Madonna, deren heruntergefahrener Cold Wave den Hörer zu Ruhe kommen lassen. Die Erkenntnis, die man aus "Zeitgeist +" zieht? Die Szene lebt. Sie ist nicht bei den großen Festivals zu finden, sondern bei den kleinen aber feinen Labels wie eben Cold Transmission, die nicht nur in eigener Sache sondern für das große Ganze Werbung machen.

Kritiker halten gerne dagegen, dass Label-Compilations eine rein kommerzielle Angelegenheit seien, um bereits bestehendes Material einer Zweitverwertung zu unterziehen. Dafür gibt es allerdings mittlerweile viele Gegenbeispiele. Mit "From Above 3" reiht sich ein weiteres ein. Denn das in Paris beheimatete Lumière Noire bezeichnet sich auf ihrer Webseite als "a creative entity pitched between a record label and a club night". Das bedeutet auf musikalischer Ebene ein extrem nihilistischer Technosound, der von der Dekadenz subkultureller Disco-Strömungen aus den Siebziger Jahren durchkreuzt wird. Aus dieser Melange ergeben sich spannende Tracks, die selbst in ruhigen Momenten ("Lost Boys" von Ian Tocor & Joseph Schiano di Lombo sei da zuförderst genannt) eine unglaubliche Intensität aufbauen. Erlaubt ist dabei alles, was nicht langweilig ist. C.A.R. mit ihrem electroclashigen "Silk Pistol" ist ein ebenso gern gesehener Gast wie das discoid-funkige "Virago" von Simon Says, das ein wenig an die glorreichen Giorgio-Moroder-Zeiten erinnert. Letzten Endes schlägt Justine Forever mit ihrem lasziv vorgetragenen "Viral" sogar die Brücke zum fetischisierten Dark-Electro. Lumière Noire besitzen ein klares Konzept, das sie auf "From Above 3" vor dem Hörer ausbreiten. Die Kunst der Reduktion, das Einschmelzen der Songs auf ihren Kern bildet das Hauptaugenmerk des Labels bei der Wahl ihrer Künstlerinnen und Künstler. Zudem sind alle Songs bislang unveröffentlicht gewesen, was ein weiteres Argument der Kritiker außer Kraft setzt. Dieser Sampler ist eine spannende Entdeckungsreise in die dunkelsten Ecken tanzbarer Subkultur.

Als Sublabel der Berliner Plattenfirma Klangwirkstoff, deren Kernkompetenz die kosmische Oktave ist, hat es Separated Beats auf unkonventionelle elektronische Musik abgesehen, die sich aus den unterschiedlichsten Strömungen die interessantesten Momente raussucht. "Durchströmungen" ist dabei ein Quasi-Sampler, denn es handelt sich um das musikalische Wirken von Ben Bekeschus. In der ersten Folge wurde sein Projekt Aus.Gleich präsentiert, gepaart mit einigen anderen Künstlern, die von Aus.Gleich einen Remix verpasst bekommen und vice versa auch das Bekeschus- Material einer Neuinterpretation unterzogen haben. In der zweiten Folge, die den Zusatz "Klangkräfte" erhalten hat, steht nun sein anderes Baby, Tales Unfolding, im Fokus. Und wie es der Titel andeutet, präsentiert Ben Bekeschus einen zwar immer noch sehr tiefenentspannten Synthesizer-Sound, den er aber mit massiven, archaischen Schlagwerk und cineastisch-orchestralen Elementen vermengt. Big Beat meets Down Beat - eine wunderbare Konstellation, die an Michel Cretus Projekt Enigma erinnert, ohne aber sich zu sehr beim breiten Publikum anbiedern zu wollen. Auch wenn "Durchströmungen 2" sowohl aus Fremd- und Eigenkompositionen besteht, ist der Hörgenuss einer Entität untergeordnet. Sprich: Die 15 Lieder sind liebevoll aufeinander abgestimmt, dass sie einen positiven Gesamteindruck hinterlassen. Wobei die Melodieführung bei "Liquid Refractor Artefacts" schon ganz großes Tennis ist. Dass Ben sich zum Schluss eine Aus.Gleich-Nummer und damit sich selbst remixt ("Baumfreundschaften (Tales Unfolding Verwurzelung)") sei ihm an dieser Stelle mehr als gegönnt.

Zur Adventszeit gehört natürlich der Adventskalender. Nachteil: Sind die 24 türchen erst einmal geöffnet, bleibt von dem Inhalt, so essbar, nicht viel mehr übrig als Erinnerungen. Der legendäre Radiomoderator und Musikjournalist Ecki Stieg hat da eine geniale Alternative geschaffen. Bereits 2019 prräsentierte er den sechsten Teil seiner "Grenzwellen"-Compilation als musikalischen Adventskalender - jeden Tag ein neuer Song von Künstlerinnen und Künstler, die auch in seiner gleichnamigen Radiosendung zu hören sind. Das Konzept ist so gut angenommen worden, dass "Grenzwellen elf" nach dem gleichen Muster aufgebaut wurde. Passend zur winterlichen Jahreszeit hat Ecki mit großer Sorgfalt Songs ausgesucht, die perfekt auf die kontemplativen Momente der "stillen Zeit" vorbereiten. Das bedeutet nun nicht, dass wir es hier nur mit Klangtapeten zu tun haben. Als Paradebeispiel soll Türchen Nummer drei, "Falling" von Infinity Room, dienen, ohne diesen besonders hervorzuheben. Nur bildet er die Quintessenz aus der Idee, die elfte "Grenzwellen"-Ausgabe sowohl ruhig, aber gleichzeitig energetisch zu halten. Wie schon die zehn Folgen zuvor, ist auch diese - und besonders diese - in der vorgegebenen Reihenfolge zu hören. Denn das ist das besondere an diesem Adventskalender: Über 24 Tage lang wurde ein Song nach dem anderen veröffentlicht, aber erst das nochmalige Hören in voller Länge legt den bewusst gesetzten Spannungsbogen dieser Zusammenstellung offen. Während man wieder elf Monate warten muss, um einen neuen Adventskalender in den Händen zu halten, hat dieser auch über diese Zeit Bestand. Fazit: eine wunderschöne Reise in raumgreifende Kompositionen, die unsere Seele in der dunklen Zeit mit Licht und Liebe füllen.

||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 07.02.23 | KONTAKT | WEITER: PMAD VS. FRENCHY AND THE PUNK VS. PHOMEA>

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