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D.NOTIVE: DIE VERGANGENHEIT GESUCHT, DIE ZUKUNFT GEFUNDEN

Kling & Klang > HINTER DER MUSIK > IM PROFIL

Trends kommen und gehen – und kommen wieder. Deutlicher als in der Popmusik lässt sich dieses Phänomen nicht belegen. Besonders in den letzten 40 Jahren bedienten sich die Künstler freimütig aus dem reichen Zitatenschatz der Populärmusik. Ein Trend ist dabei frappierend: Der Rückgriff erfolgt immer auf Stile, die vor etwa 20 Jahren ihren Höhepunkt hatten.

Ende der 70er kam mit Punk ein Aufleben der Rockabillys der 50er auf, in den 80ern orientierte man sich am Sound der Mods und manch eine Indie-Pop-Band ließ sich vom typischen Sixties-Cocktail-Tonkleid inspirieren. In den 90ern wurden die freigeistigen Hippie-Bands wiederentdeckt (und mit ihnen formschöne Schlaghosen inklusive Peace-Kette). Im neuen Jahrtausend begann die zweite Blütezeit der 80er.

Dem Gesetz nach müssen also nun die schrillen 90er endlich wieder in das kollektive Bewusstsein auftauchen.

Das tun sie auch. Aber sie tun sich schwer dabei. Denn wenngleich die 90er-Jahre mittlerweile ihre obligatorischen Ehrungen in Form zweifelhafter Privatfernsehsendungen mit launigen Kommentaren abgehalfteter C- bis Z-Promis erhalten haben, ist das vorangegangene Jahrzehnt immer noch hartnäckig in der Musiklandschaft verankert. Seit einigen Jahren versteifen sich Musiker sogar vehement auf die musikalischen wie ästhetischen Auswüchse dieser Zeit, interpretieren sie aber mit den heutigen technologischen Möglichkeiten neu.

Synthwave oder Retrowave nennt sich dieses Genre, und der Amerikaner D.Notive steht an vordersten Front dieser Bewegung. Angefangen mit einem Schulkameraden in einer Band, beschreitet er seit 2011 Solo-Pfade. Mit "Sentinel" veröffentlichte der Mann aus Minneapolis ein Werk, das ganz und gar unamerikanisch klingt. Seine Auslegung von bombastischen Synthie-Pop-Nummern könnte genausogut hierzulande oder auf den Britischen Inseln erdacht worden sein. Dieser Umstand kommt nicht von ungefähr, hängt doch sein Herz an der elektronischen Musik der Alten Welt - und das in allen Variationen: "Ich habe bereits als Kind Bands wie Depeche Mode, Tangerine Dream und die Pet Shop Boys gehört", umreißt er seine Lieblingsgruppen. "Um 2006 bin ich dann auf EBM aufmerksam geworden und entdeckte VNV Nation, Beborn Beton, Covenant und And One fü rmich." Vor allem DMs "Violator" und "Vienna" von Ultravox genießen beim 30-jährigen höchste Wertschätzung, da sie auf seine Laufbahn als Musiker den größten Einfluss haben.

Den Entschluss, sich dem aufgepeppten Eighties-Synth-Pop zu widmen, verdankt er dem 2013er-Album "Skull And Shark" des Projekts LazerHawk. "Dieses Werk war so eindringlich und atmosphärisch, dass ich begonnen habe, die Ästhetik dieser jungen Bewegung neu zu überdenken. Bis dahin verband ich mit diesem Retro-Zeug eher luftig-leichte Strand- und Tanzsongs, die ich auch sehr schätze. Aber LazerHawk gab dieser Idee mehr Substanz."

Die Parallelen zwischen dem Instrumentalwerk "Skull And Shark" und D.Notives semi-vokalen "Sentinel" sind überdeutlich, auch wenn LazerHawk mit seinen teilweise sakralen Stücken fast wie eine upgedatete Version von Rondo Veneziano klingt. Was die beiden Projekte jedoch verbindet sind die besonders druckvoll verarbeiteten Drums, die den flirrenden Arpeggio-Girlanden Standfestigkeit verleihen. Auf "Sentinel" wird zudem exzessiv Gebrauch von herrlich gestrig klingenden E-Percussion-Fills und funkigen Bassläufen gemacht. Man riskiere einfach mal ein Ohr in "No Turning Back".

Das klangliche Konzept von "Sentinel" harmoniert folgerichtig auch mit dem Layout. Ein in Chromoptik gehaltenes Cover mit rotem Schriftzug und flottem Sportflitzer lässt gleich Assoziationen an "Magnum" und vor allem "Zurück in die Zukunft" zu. Und tatsächlich klingt das Album so, als hätte Marty McFly aus seinen Zukunftsreisen ein hochmodernes Musikstudio mitgebracht, in dem er nun seine analogen Moogs, Korgs und Oberheims anschließt.

Was liegt also näher, als sich eine Geschichte für das Album auszudenken, das nah an der Story der kultig verehrten Science-Fiction-Trilogie vorbeizieht? Immerhin ist D.Notive selbst ein glühender Verehrer dieser Filmreihe: "Ich habe 'Zurück in die Zukunft' als Kind fast täglich auf einer ausgeleierten VHS-Kassette gesehen, sodass ich bereits im zarten Alter von fünf Jahren alle Schimpfwörter von Michael J. Fox auswendig konnte, was mir einige Probleme einbrachte."


Grob umrissen, handelt das Album von einem Polizisten, der eine Zeitreise ins Jahr 1985 unternimmt, um den Mord an seiner Schwester ungeschehen zu machen. Die Idee für diese Geschichte resultierte als direkte Reaktion auf "The OutRun", einem  Synthwave-Meilenstein, vom französischen Musiker Kavinsky.

Denn so überragend Musik und Texte dieses Werkes von 2013 aber auch sein mögen, zeigt sich D.Notive nicht vollständig vom Konzept überzeugt. Die Einbettung der Story um die fiktive Figur Kevin Sky, der ein herrenloses, rotes Sportauto findet und damit zum "Deadcruiser" wird, sei nicht konsequent ausgeführt worden. "Ich bin frustriert, dass so wenig Handlung über seine Songs transportiert wird. Deswegen habe ich begonnen, mir Gedanken darüber zu machen, wie ein Gegenentwurf zu Kavinskys Geschichte aussehen könnte und bin auf die Idee des Polizeibeamten aus der Zukunft gekommen. Das war die Geburt des Sentinel-Charakters. Ich wollte die Geschichte von 'The Sentinel' so facettenreich wie möglich über das Album darbringen. Denn ich habe mich immer gefragt: 'Was nützt eine tolle Geschichte, wenn Du sie nicht über Deine Musik erzählen kannst?' Meiner Meinung nach war das der größte Fehler von Kavinsky – und ich wollte ihn nicht wiederholen."

Klassisch in drei Akte aufgegliedert, vereint diese Zukunftsmär D.Notives Faible für elektronische Musik, das er teilweise mit seinem klaren Organ wunderbar veredelt. "Back In The Saddle" und vor allem "Second Chances" zählen jetzt schon bei vielen Fans zu den neonfarbenen Glanzlichtern dieses Albums. Ganz klar: Hier liebt einer die Achtziger heiß und innig und will seine Faszination dafür begreifbar machen. "Ich denke, dass dieses Jahrzehnt so viele junge Menschen in ihren Bann zieht, weil sie es nicht selber erleben konnten. Viele Musiker in dieser Szene sind zwischen 20 und 30 Jahre alt. Wenn überhaupt, dann haben sie die 80er nur als Kleinkinder erlebt. Daraus resultiert diese Nostalgie".

Mehr noch aber liegt für D.Notive die Besonderheit dieser Dekade im kollektiven Fortschrittsglauben. "Den 80ern lag eine positive Stimmung zu Grunde, wenn es um technologische Fragen ging. Und ich glaube, dass es auch das letzte Jahrzehnt war, bevor ein gewisser Zynismus unser kulturelles Bewusstsein  besetzt hat. Die heutigen Massenmedien zwingen uns dazu, jeder Nachricht zu misstrauen. Als damals die ersten Computer auf dem Markt kamen, dachte man, dass sie einem das Leben erleichtern würden und uns Freiheiten schenken. Mittlerweile wissen wir es besser."

Bei aller Bitterkeit, die in D.Notives Worten steckt, sieht er die heutige Welt nicht komplett negativ. Zumindest gehört er nicht zu jenen Zeitgenossen, die enervierende "früher war alles besser"-Parolen von sich absondern. Auch in musikalischer Hinsicht sieht er keinen Grund für Verdruss:

"'1989' von Taylor Swift ist beispielsweise ein perfektes Album vom Anfang bis zum Ende", führt er als Beispiel für gute Popmusik aus den 2010ern an. "Auch die letzten Singles von Bruno Mars waren spektakulär. Und ich entdecke gerade sogar Fall Out Boy für mich."

Dass er schlussendlich am Klang von Synthie-Pop 2.0 bastelt, liegt wohl an dem Umstand, dass die Geschichte dieses Genres noch nicht zu Ende erzählt worden ist. "Die elektronische Popmusik starb meiner Meinung nach einen vorzeitigen Tod. Deswegen streben viele, vor allem junge, Menschen danach, diesen Stil wiederzubeleben. Heutzutage kann man kostengünstig am Computer klassische Synthesizersounds herstellen. Ich denke, dass es den Wunsch gibt, diese alten Klänge mit aktuellen Produktionsmethoden zu vereinen, um dieser Musik neues Leben einzuhauchen. Es ist ein bisschen wie eine verlorene Stadt wiederentdeckt zu haben und sie besser als zuvor aufzubauen."

Frei nach Starship: We built this city on Synthie-Pop. Ein schöner Gedanke eigentlich.


Das Original-Interview mit D.Notive haben wir für Euch ebenfalls bereitgestellt. Und wer Lust auf das Album bekommen hat, kann es sich sogar kostenlos hier anhören (und vielleicht den einen oder anderen weiteren Retrowave-Künstler für sich entdecken).

||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 11.07.16 | KONTAKT | WEITER:  BLANK & JONES: SO80S 10>

Webseite:
www.d.notive.cc

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