"GENIALE DILLETANTEN - SUBKULTUR DER 1980ER-JAHRE IN DEUTSCHLAND": DIE KUNST DER KUNSTVERWEIGERUNG
Von welch feiner Ironie doch die Tatsache durchzogen ist, dass ausgerechnet in München im vergangenen Jahr eine Ausstellung über die kurze und heftige Kunstrevolte in Deutschland zu Beginn der 1980er-Jahre stattfand. In jener Stadt also, die mit kaum mehr erkennbaren subkulturellen Netzwerken, dafür aber mit viel Chi-Chi und hochglänzenden Fassaden ausgestattet ist. Zudem war "Geniale Dilletanten - Subkultur der 1980er-Jahre in Deutschland" im Haus der Kunst, dem Mekka für Hochkultur und Lachshäppchen verschlingende Bildungsbürger, beheimatet - mon dieu! Genauso gut hätte man im Petersdom zu Rom eine Bildergalerie über die Geschichte der sexuellen Verhütung präsentieren können.
Aber vielleicht ist es der geheime Wunsch der braven Hauptstadt des bayerischen Freistaates, auch mal ein bisschen arm aber sexy wie Berlin zu sein. Immerhin: Es gab mal einen glorreichen Versuch - in Form des Künstlerkollektivs F.S.K., das auch im Katalog zur Ausstellung Erwähnung findet. Diese Gruppe ist sogar ein Musterbeispiel dafür, wie gestalterische Grenzen in den letzten Jahren des sozialdemokratisch geführten Deutschland unter Helmut Schmidt (und natürlich auch dank der alles niedermähenden Kraft des Punk) ad absurdum geführt worden sind. F.S.K. wurde zu einem weiteren Betätigungsfeld, um den unbändigen Schaffensdrang der Mitglieder, die bereits als Kurator, Schriftsteller, oder Fotograf reüssierten, zu befriedigen. Kennengelernt haben sie sich übrigens alle als Redakteure beim Münchner Underground-Magazin "Mode & Verzweiflung".
Die Epizentren dieser Umsturzkünstler und Weltaufstandsplaner sind vornehmlich in Berlin (Mauerstadt!) und Düsseldorf (Beuys-Stadt!) auszumachen. Doch die dort ausgesendeten Druckwellen reichen so weit, dass selbst im erzkonservativen Bayern der Wunsch nach autarker Selbstverwaltung seitens den Schaffenden wachgekitzelt worden ist. Leonhard Emmerling und Mathilde Weh geben in dieser Publikation einen umfassenden Einblick davon, indem sie schlaglichtartig die wichtigsten Bands, Filmemacher und Designer in kurzen Portraits und teilweise grobkörnig bis unscharfen Fotografien vorstellen.
Dazwischen versuchen unter anderem Pop-Philosoph Diedrich Diederichsen, Filmexperte Florian Wüst und Justin Hoffmann, ex-F.S.K. und jetzt Leiter des Kunstvereins Wolfsburg, den Genialen Dilletanten ihren Platz in der Kunstgeschichte einzuräumen. Das gelingt mal mehr, mal weniger launisch. Macht aber nichts, denn Bilder sagen bekanntermaßen mehr als 1000 Worte. Sie sind es, die uns mitnehmen auf eine atemlose Reise durch die Szene-Clubs der angesagtesten Städte. Es riecht geradezu nach Schweiß, Haarspray, ausgeschüttetem Bier und Zementstaub, während dissonanter Lärm und Industriegeräusche von Untergang alter Werte künden. Die pessimistische Zukunftsprognose (Stichwort: Kalter Krieg) verlangt eben eine neue Ausdrucksform.
Hinter all diesen Schaffensexplosionen, die sich scheinbar tagtäglich in jeden Winkeln der Städte ereignet haben müssen, stehen natürlich Menschen, die nicht von der Straße, sondern von den Kunst- und Musikhochschulen stammen. Es handelt sich dabei um hellwache Freigeister, die sich aber von den Grundgedanken des Punk und dem Wissen über gegenwärtige Kunstströmungen (allen voran Performance-Kunst und Fluxus) leiten ließen, um ihre Ideen mit größtmöglicher expressiver Kraft dem von hippieesker Kuschelpädagogik beeinflussten Bundesbürger ins Gesicht zu schleudern. Anstatt "Natur pur" lautet die Devise "Zurück zum Beton" (S.Y.P.H.) - einen radikaleren Ansatz hätte es in dieser Zeit, als eine Partei namens "Die Grünen" sich zu formieren begann, gar nicht geben können.
Die hässliche Fratze der Urbanität - bei den Genialen Dilletanten wird ihr auf ironische Weise gehuldigt. Einstürzende Neubauten machen Musik mit zusammengesammelten Schrott und Alltagsgegenständen. Die verbotene DDR-Gruppe Ornament & Verbrechen basteln sich - ganz Do-It-Yourself like - beispielsweise aus einem Spülmittel-Kanister, den sie mit Legosteinen befüllen, eine Snare-Drum. Modedesignerin Claudia Skoda gründet zusammen mit anderen Künstlern eine Wohngemeinschaft in einem Fabrikgebäude in Berlin-Kreuzberg. Und Yana Yo bringt mit "Normalzustand - Errungenschaften einer aufgeklärten Gesellschaft" einen Kurzfilm in Video-Clip-Ästhetik heraus, das lose verschiedene Kriegs- und Großstadtszenen aneinanderreiht, nur zusammengehalten vom Fehlfarben-Song "Apokalypse".
Ausbruch, Umbruch, Tabubruch - nie zuvor und danach gelang ein solch kollektiver Kultur-Amoklauf, bei dem es am Ende des Tages egal war, ob man Musik machte, Skulpturen herstellte oder Kleidung entwarf. Hauptsache: Es entstand aus dem Moment heraus. Verweigerung der Ästhetik und des künstlerischen Anspruchs lautet die Maxime. "Die Kunst des Vergessens und des Verlernens sollten den Weg öffnen zu einer ungebremsten Kraft des Ausdrucks, einer neuen Expressivität", wie es Matthilde Weh in der Einleitung des Katalogs treffend formuliert.
Strikte Grenzziehung funktioniert in diesem Moment also nicht mehr. Frank Fenstermacher und Moritz R. sind zwar Musiker bei Der Plan, gestalten aber für andere Gruppen die Cover, führen ein Atelier und das bis heute bestehende Independent-Plattenlabel Ata Tak. Ihre selbst designten, surrealsitischen Kopfbedeckungen sind in kommerzialisierter Form bei Deichkind und Daft Punk wiederzufinden. Und bei Der Tödlichen Doris von einer Band zu sprechen, trifft den Kern der Sache nicht wirklich, haben ihre Live-Auftritte doch eher klassischen Performances im Sinne eines Gesamtkunstwerkes entsprochen.
Das "Festival Genialer Dilletanten" am 4. September 1981 im Berliner Tempodrom (das der Bewegung schließlich ihren Namen gegeben hat) verhält sich dabei wie "Woodstock" zu den Hippies: Es ist das letzte monumentale Aufbäumen einer nur wenigen Jahre andauernden Bewegung, deren Einschlag aber bis heute nachwirkt. Kommerziell erfolgreiche NDW-Schlagerstars wie Nena oder Hubert Kah verdanken ihren Ruhm zu einem nicht geringen Teil der dadaistischen Sprachzerstörung wenige Jahre zuvor. Und die "Neuen Heftigen", wie die Maler aus jener Zeit getauft worden sind, verhalfen dem zwei Jahrzehnte zuvor ausgerufenen Neo-Expressionismus in der Bildenden Kunst zu neuem Schwung. Ja, sogar eine Lady Gaga wäre in ihrer Art ohne die Detonationskraft der Genialen Dilletanten kaum möglich.
Ganz im Geiste des Fluxus sollte dieses amorphe Künstlerkonglomerat aber nie auf Ewigkeit ausgerichtet sein. Am Ende haben die Beteiligten wieder zu ihren Kernkompetenzen zurückgefunden, sind mittlerweile Vollzeit-Musiker, -Maler und -Schriftsteller oder organisieren sich in welcher Form auch immer im Kulturbetrieb. Die letzten Bilder dieses Buches - das vermüllte "SO 36" nach einem Konzert und ein einzelner Punk auf einer Straße im Prenzlauer Berg - künden dennoch etwas wehmütig vom Ende einer Bewegung, deren strikte Kunstverweigerung zu den interessantesten Exponaten der jüngeren Kulturgeschichte geführt hat. "Geniale Dilletanten" ist der längst überfällige Nachruf gewesen, die begleitende Publikation eine liebevolle Zusammenfassung.
||TEXT: DANIEL DRESSLER |DATUM: 4.6.16 | KONTAKT | WEITER: KURZ ANGESPIELT 5/16>
Webseiten:
www.hatjecantz.de
ISBN 978-3-7757-4034-0
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© || UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR | IM NETZ SEIT 02/04/2014. ||