2/17: RED LORRY YELLOW LORRY, ASP, TK KIM, ROSI - DÜSTERROCK IM WANDEL DER ZEIT
Das Problem: Mittlerweile mutiert "Gothic" zu einem kaum mehr zu bändigen Monstrum - musikalisch gesehen. Schließlich firmieren unter diesem Etikett Bands aus den verschiedensten Sparten. Martialische EBM-Combos stehen Seite an Seite mit neuklassischen Ensembles; langhaarige Klampfenbearbeiter geben kämpferisch bemalten Mittelalterbarden die Gothic-Festival-Klinke in die Hände. Sobald auch nur irgendwo ein Fünkchen Melancholie aufblitzt, wird das Adjektiv "gruftig" geradezu inflationär genutzt. Einerseits eine feine Sache, da eine musikalische Offenheit per se natürlich nicht verwerflich ist. Andererseits verwässert diese fast willkürliche Assimilation den Begriff doch deutlich.
Die Wiederveröffentlichung der ersten vier Alben von Red Lorry Yellow Lorry (inklusive der dazugehörigen Singleauskopplungen), schlicht "Albums And Singles 1982-1989" betitelt, kommt da zur rechten Zeit, um sich wieder auf die Anfänge der Vogelnestträger-Gemeinde zu besinnen. Denn die Band aus Leeds gehörte zweifelsohne zur ersten Generation von Musikern, deren Werdegang ein klassisch gruftiger ist: angefangen in Punk- und Schulbands, ging Chris Reed, Frontmann und Kopf der "Lorries", mit David Wolfenden anfang der 80er Jahre eine fruchtbare Verbindung ein, geleitet vom Fatalismus eines Ian Curtis oder Peter Murphy. Der stringente, fast schon mechanische Gitarren-Sound, gepaart mit dem teilweise wie leer klingenden Gesang Reeds bilden stets den Dreh- und Angelpunkt ihrer Nummern. Gerade das Debüt "Talk About The Weather" erinnert mit seinen stoischen Computerdrums stark an die Anfangsphase der Sisters Of Mercy, wobei der Post-Punk-Einschlag noch deutlicher herauszuhören war. Bereits mit "Paint Your Wagon" änderte sich aber ihr Stil: Schlagzeuger Mick Brown verließ die Band und ging zu The Mission. Seinen Platz nahm nun Christopher Oldroyd ein und setzte ein klassisches Drum-Kit den programmierten Percussions entgegen. Das brachte eine deutliche Erdigkeit der Songs mit sich. Besonders das groovige "Jipp" profitiert von dieser frischen Rhythmus-Sektion. Mit dem dritten Werk "Nothing Wrong" wurde ihr Gothic-Rock nicht nur dunkler, sondern auch experimenteller. "Sayonara" kommt ohne Text aus, "World Around" beginnt mit einem Sample aus einer BBC-Doku, und "Time Is Tight" am Ende des Albums, im Original von der R'n'B-Legende Booker T. & The M.G.'s, klingt wie ein 52-sekündiger Outtake eines Versuchs einer Coverversion. Schon hier begann der schwarze Stern der Lorries zu sinken. Schließlich wurde die vierte Langrille "Blow" zum Schwanengesang der Gruppe, obgleich es das zugänglichste Album war und vieles vom Indie-Rock der 90er vorwegnahm. Doch die schlechten Verkaufszahlen wurden zum K.O.-Kriterium: Das Beggars-Banquet-Sublabel Situation Two, das RLYL seit "Nothing Wrong" beheimatete, kündigte die Zusammenarbeit auf. Reed versuchte danach, die Band immer wieder zu reanimieren, aber blieb dabei weitestgehend erfolglos. Diese Box, komplettiert durch ein interessantes Interview mit David Wolfenden im Booklet, schmeckt noch einmal den Anfängen einer Bewegung nach, die in ihrer stilvollen Weltabgewandheit wirklich innovativ war.
Vom Gothic-Rock von Red Lorry Yellow Lorry zum Gothic-Novel-Rock der Frankfurter ASP ist es eigentlich nur ein Flügelschlag eines schwarzen Schmetterlings. Und auch wenn sich Sänger Asp nicht als "Gruftie" im klassischen Sinn versteht, so treffen seine epischen, meist mehrere Alben umfassenden Zyklen punktgenau den Geschmack einer neuen Szene-Generation, die von solch monumentalen Werken wie "Matrix" oder "Herr der Ringe" vor allem visuell beeinflusst werden. Spätestens seit dem dritten Album "Weltunter" steht ASP ebenfalls für Bilderreichtum auf allen Ebenen und in höchster Perfektion. 2014 ging die Band anlässlich ihres 15. Geburtstages auf eine besondere Konzertreise. Gleich zwei verschiedene Gigs wurden pro Stadt gegeben. Einmal als semiakustische Soirée ("Rar und pur"), einmal als energetischer Querschnitt durch die aspische Vita ("Best of Rock"). Ein wahrer Auftritts-Marathon, den die Gruppe aber - UNTER.TON hat es ja selber miterleben dürfen - nur allzugerne absolvierte. Diejenigen, die diese Jubiläumskonzerte verpasst haben, können der festlichen Atmosphäre bei "Live...auf rauen Pfaden" noch einmal beiwohnen. Es beinhaltet beide Konzerte in kompletter Ausführung auf vier CDs, bei der natürlich geklotzt und nicht gekleckert wurde. Gut: Man erwartet eigentlich auch nichts anderes vom Perfektionisten Asp. Die Brillanz und Klarheit jedoch, mit der das ganze Ensemble zu hören ist, sowie die perfekt eingefangenen, mitreißenden Begeisterungsstürme der Zuschauer, sollten fürderhin als Maßstab für andere Bands gelten. Besonders in der Schwarzen Szene sind Live-Mitschnitte nämlich oftmals matschig im Ton und das Publikum scheint meilenweit weg zu sein. "Live...auf rauen Pfaden" vermittelt einem das Gefühl, wirklich in der Menge feiernder ASPianer zu sein. Und die Euphorie kennt natürlich keine Grenzen mehr, wenn die Band ihre Gassenhauer anstimmt. "Ich will brennen", "Werben", "Ich bin ein wahrer Satan", "Und wir tanzten"...die Liste könnte noch beliebig weitergeführt werden, denn in 15 Jahren sind einige dunkelschimmernde Juwele entstanden, die mittlerweile nicht mehr aus dem Kanon gepflegten Schwarzkittel-Entertainments wegzudenken sind. In den launigen Einlagen zwischen den Songs entpuppt sich der imposante Sänger auch als stilsicherer Conferencier und Geschichtenerzähler. Dass er dabei auch gerne mal schunkelige Mitmach-Aktionen einstreut, sei ihm gegönnt. Schließlich sind 15 Jahre konstante Präsenz im Musikzirkus ein brutaler Kraftakt, an dem viele andere bereits scheiterten. Da darf dann auch mal einfach nur gefeiert werden - ohne auf die schwarze Etikette zu achten. Aber sie sind ja keine Gothic-Rocker.
Auch die Französin TK KIM würde man nicht direkt in diese Ecke stellen, obgleich sie gekonnt mit dem Erbe musizierender Melancholiker spielt. Allerdings erinnert sie in ihrer extremen, bedingungslosen und nach allen Seiten offenen Schaffenskraft an die No-Wave-Ikone Lydia Lunch. Wie die Amerikanerin, tobt sich TK KIM ebenfalls auf unterschiedlichste Art und Weise aus. Sie singt, schreibt, fotografiert - und nutzt die sozialen Medien intensiv, um ihre Ideen und Gedanken zu verbreiten. Mit "Intrication" beschert sie uns ein ganz eigenes Album, das von einer fast schon manischen Getriebenheit gezeichnet ist. In den meisten Songs spricht die Künstlerin schnell, hektisch, nervös. Ganz so, als versuche sie einen flüchtigen Moment, einen kurzen Gedanken mit ihren Worten festzuhalten. Ihre Texte untermalt sie hauptsächlich mit melancholischem Elektro-Pop, der anfangs noch durch Gitarreneinsatz angriffslustig daherkommt, sich gegen Ende aber immer stärker in die Introspektion verlagert. Das besondere dabei: Trotz der vielen Einflüsse bleibt "Intrication" (übrigens auch in Kombination mit einem Buch zu erwerben) erstaunlich homogen. Das verwundert, denn die Songs entstanden in Zusammenarbeit mit verschiedensten Künstlern, von denen hierzulande jene Kollaboration mit den Vorzeige-Goth-Rockern von Lacrimosa natürlich den meisten Widerhall provozieren sollte. "Bleib" lebt dabei von der stimmlichen Spannung zwischen TK KIM und Thilo Wolff. Ihre eigentliche Liebe dürfte die Multi-Media-Künstlerin aber im französischen Chanson haben - speziell "6th Floor", das mit Alan McKerl aufgenommen wurde, erinnert an eine 2.0-Version von Serge Gainsbourg & Jane Birkin, angereichert mit der Großstadt-Melancholie, wie man sie in den Romanen Michel Houellebecqs findet. In diesem Stück gelangen die beiden Protagonisten nicht zueinander, obgleich sie Sie sich umschwirren wie die berühmten Motten das Licht und unter verzagten Pianoklängen nicht aus den Augen lassen. Es ist der vielleicht stärkste Song auf "Intrication", das sich bewusst einen ganz eigenen, anspruchsvollen Kosmos ausgesucht hat, in dem es in Ruhe expandieren kann. TK KIM ist eine Meisterin des Schlaglichts: Sie reißt in ihren Nummern Gedanken und Geschichten nur an. Weiterdenken müssen wir sie selbst. Der hohe Input dieses gerade mal sieben Liedern umfassenden Longplayers ist wirklich bemerkenswert. Mehr Songs von dieser Opulenz würden einen tatsächlich überfordern.
Vielleicht ist das auch der Grund, warum viele Gruppen ihren ganzen instrumentellen und studiotechnischen Fuhrpark wieder runterfahren. Eine neue Riege junger Musiker überzieht seit einigen Jahren die Schwarze Szene mit einem Post-Punk und Cold-Wave, der der ursprünglichen Fassung extrem nahe kommt. Auch das Bielefelder Duo Rosi lässt sich auf die abenteuerliche Reise ein, mit minimalem Equipment Musik zu machen. Die Songs auf ihrem Debüt "Grey City Life", fast ausnahmslos in Deutsch betitelt, aber überwiegend in Englisch eingesungen, halten sich an die Vorgabe des Titels. Trotz ihres "rosigen" Bandnamens zeichnen Sänger Sven Rosenkötter und Multi-Instrumentalist Mirco Rappsilber beklemmend leb- und emotionslose Bilder. Quasi ein musikgewordenes "Metropolis", in der die Stadtbewohner, innerlich abgestorben, jeden Hauch menschlichen Antlitzes verloren haben und nur noch vegetieren. Einen ersten Höhepunkt absoluter Niedergeschlagenheit liefern Rosi mit "Jeder" ab. Zähflüssig stochern Gitarren durch nebulöse Synthesizerwolken, während Sven zu einem schmerzerfüllten "memento mori" anhebt. "Everybody has to die" wiederholt er in einem ausgehöhlten Tonfall, wie unter Valium. Ganz so, als ob er selber schon mit einem Bein im Sarg steht. Doch schon das nachfolgende "Tanzen" weckt die müden Lebensgeister. Auch wenn der Musiker seinem Gegenüber klar macht, dass ihm gar nicht nach einem Schwoof zumute ist, ziehen attraktive Gitarrenakkorde und eine akkurat arbeitende Rhythmus-Abteilung den Hörer so stark zur Tanzfläche wie über die ganze Spielzeit von "Grey City Life" nicht. Ansonsten ist dieses Album nämlich ein wortwörtlich zu nehmendes "50 Shades Of Grey": mal lichter, mal dunkler, aber frei von jeglicher Farbpracht, die das Leben für uns bereithalten kann. Rosi wird all jene begeistern, die mit den Namen The Fall, Bauhaus und Tuxedomoon noch etwas anfangen können. Und die unermüdlichen Szene-Skeptiker, die glauben, den wahren Geist von "Gothic" nicht mehr in den aktuellen Produktionen zu spüren, dürfen ebenfalls ein Ohr in "Grey City Life" riskieren. Es sollte ihr Schaden nicht sein. Totgesagte leben eben länger.
||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 27.02.17 | KONTAKT | WEITER: TOP 10 REVOLUTIONS-POP >
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Webseiten:
www.red-lorry-yellow-lorry.com
www.aspswelten.de
www.tkkimblog.wordpress.com
www.rosi-music.bandcamp.com
Cover © Cherry Red/Rough Trade (Red Lorry Yellow Lorry), Trisol/Soulfood (ASP), Neopren Records (TK KIM), In a bad mood (Rosi)
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