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6/16 DIE FORM:MUSIQUE CONCRÈTE, MODERAT, M83, DANI'EL: ELEKTRONIK SCHÖÖÖN!

Kling & Klang > KURZ ANGESPIELT > 2016

Nach wie vor bleibt es ein unlösbares Rätsel, warum die deutschen DJs und Musikproduzenten Felix Jaehn und Robin Schulz mit ihren verstrahlt tapernden Schlaftabletten-Nummern solch einen anhaltenden Erfolg verbuchen können. Noch nie war elektronische Klangerzeugung belangloser und blutarmer, die in den Nummern eingepflegten Sounds uniformer und dröger. Dabei kann der Synthesizer, egal ob als analoger Brotkasten im Kellerstudio oder in digitalisierter Form am Heimcomputer, so viel mehr.

Besonders interessant wird es dann, wenn Moog und Co. nicht krampfhaft dafür verwendet werden, um ein anderes Instrument schlecht nachzuahmen, sondern ihre eigenen sägenden Sequenzen zum besten zu geben und zu offenbaren, was sie sind: Maschinen mit einem unikaten Tonkosmos. Was für expressionistisch-surreale Klangwelten sich daraus ergeben, lässt sich bei Philippe Fichot sehr gut festmachen. Eigentlich ist er als kreativer Kopf des Fetisch-Projektes Die Form seit Jahrzehnten ein fester Bestandteil bei den Freunden erotischer Fesselspiele. Mit seinen schummrigen Folterkammer-Electro-Nummern hält er sein Publikum, um im Sado-Maso-Bildchen zu bleiben, schön an der kurzen Leine. Nun werden den Synthesizern aber die rosa Plüschhandschellen und schwarzen Lederriemen abgenommen – und der Blick zurück gewagt, um Erkenntnisse für die Zukunft zu gewinnen. Denn wie der Zusatz des Bandtitels explizit ausdrückt, bezieht sich Fichot mit seinem Werk "Caméra Obscura" auf die so genannte Musique Concrète, einem avantgardistischen Kompositionsverfahren, bei dem Stücke rein aus dem Zusammensetzen verschiedener Alltagstöne entstehen. In der Nachkriegszeit erstmals angewendet und kontrovers diskutiert, bildet dieses Genre den Prototypen des Samplings, allerdings ohne Anspruch auf Konsumentenfreundlichkeit ausgelegt.
So wird das Album mit der "Melodia Melancolia", das mit Theremin-Klängen beginnt und im Mittelteil mit basssatten Störgeräuschen jeden Anflug von Harmonie im Keim erstickt, eröffnet. Auch beim nachfolgenden "Kantic Music" überwiegt brachial-anarchisches Schlagwerk, das den Hörer in erster Linie herausfordert. Gediegenes Weghören ist nicht! Hier wird Musik zur substanziellen Kunst, die bewusst wahrgenommen und beim Rezipienten weitergedacht werden will. Nur manchmal, wie bei "Molecules", sorgen fließende Klavierfiguren für einen Moment Ruhe, ehe "Tempus Ex Tenebrae" wie ein hart umkämpfter Kriegsschauplatz klingt, bei dem verschiedenste Stile der Musikgeschichte um die Gunst der Hörerschaft streiten. "Caméra Obscura" verweigert sich mit Absicht den Genres und negiert auch subkulturelle Strömungen wie Dark Ambient und Noise, indem sie in ungewohnter und überraschender Folge aufeinandertreffen. Doch genau in dieser krassen Gegenhaltung liegt der Reiz des Albums. Die Form:Musique Concrète gelingt das Kunststück, der elektronischen Musik ihre avantgardistisch-expressive Kraft zurückzugeben.

Bei weitem nicht so radikal, aber dennoch in seiner Art und Weise aufwühlend, gestalten sich die Veröffentlichungen von Moderat. Die fruchtbare Verbindung zwischen den beiden Projekten Apparat, bestehend aus dem Klangfrickler Sascha Ring, und den Bassfetischisten Sebastian Szary und Gernot Bronsert von Modeselektor, geht mittlerweile in die dritte Runde. Konsequenterweise "III" betitelt, gibt das Album allein von seinem Namen erst einmal keine weiteren Informationen preis. Wer aber das Trio kennt, weiß nur zu gut um die eigenartig-schöne Stimmung ihrer Alben. Auch bei diesem Longplayer schaffen sie es, ihr amorphes Konglomerat aus Techno, Trance, IDM und Trip-Hop so zu gestalten, dass dabei ein höchst anspruchsvolles sowie gleichsam eingängiges und entspannendes Werk entsteht. Bereits "II" konnte mit der Auskopplung "Bad Kingdom" für reichlich aufgestellte Lauschlappen sorgen. "III" verfeinert nun dieses Erfolgsrezept und wagt den Schritt zu noch größerer Opulenz, wie es bei "Finder" deutlich zu erkennen ist. Weg vom einstigen Streben nach Diskothekentauglichkeit, hin zu einer ekstatischen Introspektion. Mit dabei: Die unglaublich tiefen Klang-Landschaften, die in Verbindung mit den zackigen Beats und Rings melancholischer Stimmlage zu einer einmaligen Melange verschmelzen. Der flächige Sound funktioniert vor allem dann, wenn sich wie in "Reminder" zwischen schüchterner Strophe und forschem Refrain eine knisternde Spannung bildet.
Überhaupt scheint das Trio mehr noch auf eine einheitliche Soundästhetik zu achten; selbst forsche Rhythmuswagnisse wie in "Animal Trails" zerstören die Homogenität von "III" nicht, sondern bilden nur eine weitere Facette im Moderat'schen Klanguniversum. Das Album kann tatsächlich in einem Rutsch durchgehört werden, ohne dass einen das Gefühl beschleicht, zwölf Mal den gleichen Song präsentiert zu bekommen. Die Jungs nehmen uns erneut mit auf eine auditive Reise durch ihre Gefühlswelten, zu denen sich nicht mehr so gut tanzen lässt wie früher, aber dafür als Kopfhörernahrung in den eigenen vier Wänden ihre größte Wirkung entfaltet.

Von ähnlich berauschender Qualität war auch das sechste Werk "Hurry Up, We're Dreaming" der französischen M83. Das Doppel-Album verband melancholischen Shoegaze mit federleichten Elektro-Strukturen und lud gemäß seines Titels zum Träumen ein. Bei einem so überragenden Werk, dessen Songs bis heute regelmäßig Verwendung in diversen Filmen findet ("Das Schicksal ist ein mieser Verräter", "The Art Of Flight", "Oblivion"), bleibt die Frage nicht aus, ob M83 ihr Meisterwerk überhaupt noch übertreffen können. Doch Anthony Gonzalez, Chef des Projekts, denkt nicht im entferntesten daran, sich am stetigen Erfolg von "Hurry Up, We're Dreaming" zu orientieren. Fast schon wie aus Trotz werden träumerische Momente auf dem aktuellen Album "Junk" gegen schwüle Barry-White-Rhythmen ("Moon Crystal"), verquere Micky-Maus-Stimmen ("Bibi The Dog") oder auch herrlich schnulzige Saxofon-Passagen ("Walkaway Blues") eingetauscht. Unter dem Strich soll dieses Album nun endlich zum Kern von M83 gelangen. Denn laut Pressemeldung wollte Gonzalez noch mehr auf das eklektizistische Wesen seiner Musik verweisen. Gelungen ist ihm das ohne Frage. Das beste aus vier Jahrzehnten Musik – bei "Junk" kein Problem. Ob aber eingefleischte Fans ihm solche extrem schmalzigen Soft-Porno-Balladen wie "For The Kids" verzeihen werden, bleibt indes fraglich.
Ein wenig Wiedergutmachung leistet er aber flugs mit "Solitude", das an jene mächtig-überbordenden Klanglandschaften des großen Vorgänger-Werkes erinnert. Von "Junk" im wörtlichen Sinne kann man bei diesem Werk nun wahrlich nicht sprechen, obwohl das Cover mit seinen fusseligen Monstern eher wie ein schlechter Scherz wirkt und auch die Stücke schon tief in die Klischeekiste greifen. Wenn zum Beispiel zum Auftakt von "Tension" ordentlich vor sich hingegniedelt wird, muss man unweigerlich an die Balladen-Fokuhilas von REO Speedwagon denken. Und das abschließende "Sunday Night 1987" erinnert entfernt an "Babe" von Styx. M83 fordert nach intensivem träumen also nun zum völlig unbeschwerten Tanz auf.

Dies tut Dani'el aus Zagreb mit seinem kleinen Meisterwerk "Final Chapter - Heaven Shall Be" auch, allerdings blitzt bei Danijel Majcen, wie er gebürtig heißt, immer wieder eine Träne aus dem Knopfloch hervor. Das liegt in erster Linie an seinem feinen, von zartem Schmelz umgebenen Organ sowie an seiner gefühlvollen Beobachtung für die Liebe, Trauer, Angst und Wut, kurz gesagt: für das Leben an sich. Seine Alben gleichen schonungslosen Tagebucheinträgen. Folglich verpasste er seinem Projekt den vielsagenden Ausdruck "The Book", das in der Vergangenheit via Album und Miniformaten ausgefüllt wurde und nun mit "Heaven Shall Be" abgeschlossen wird. "The Final Chapter", so der Titelzusatz, fährt noch einmal die gesamte Gefühlspalette auf, läuft gleich zu Beginn mit "Why Is That" zu hymnischer Größe auf, um später in "Getting Bigger" eine unaufgeregte, fast schon kraftwerk'sche Mitwippnummer zu präsentieren, die nichts weniger ist als ein extrem cooles Stück Musik. Auch die Neuinterpretation von Annie Lennox' "Precious" zeigt einerseits Daniels große Liebe für die Grande Dame des Elektro-Pop, bringt aber andererseits sein exaktes Gefühl für ansprechende Sequenzen und pointiertes Arrangement zum Ausdruck. Mit anderen Worten: Man hört Lennox und Dan'iel zu gleichen Teilen heraus. Sein großer Vorteil liegt in seinem professioneller Background: Als Gesangslehrer weiß der Mann mit trendigem Hipster-Bart natürlich bestens, mit seiner Stimme umzugehen. Gerade bei "Safe" ist diese Sicherheit ein Segen.
Sowohl tiefe Lagen, als auch höher gelegene Töne trifft er pfeilgerade und damit auch das Herz des Hörers. Während andere Sänger bei diesen Halsbrecher-Nummern garantiert versagen würden, gleitet Daniel mühelos die Tonleitern rauf und runter. Genauso verhält es sich mit "To Dare", bei der eine rollende Basslinie sowie glockenhell fließende Keyboardmelodien mit Daniels unangestrengter Performance ein stimmiges Ganzes ergeben. "Heaven Shall Be" bringt die etwas verloren gegangene Grandezza der elektronischen Musik zurück und widerlegt spielend das Vorurteil, das aus den gehasst-geliebten Klangmaschinen nur seelenlose Töne herauskämen. Es hängt eben doch davon ab, wie sie eingesetzt werden. Dani'el jedenfalls macht es unnachahmlich schön.

||TEXT: DANIEL DRESSLER |DATUM: 21.06.16 | KONTAKT | WEITER: GENIALE DILLETANTEN: SUBKULTUR DER 1980ER-JAHRE IN DEUTSCHLAND >


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Webseiten:
www.dieform.net
www.moderat.fm
www.ilovem83.com
www.dani-el.com


Cover © Dark Tune Musicgrop/Soulfoodl (Die Form:Musique Concrète), Monkeytown/Rough Trade (Moderat), M83 Recordings/Naive (M83), Danijel Majcen/Dita Entertainment/Scentair Records (Dani'el)

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