YANN TIERSEN "PORTRAIT" VS. GIAN MARCO CASTRO "OUT OF THE PAST": STILLLEBEN DER MELANCHOLIE
In seltenen Fällen schafft es ein Film und der dazugehörige Soundtrack, sich zu bedingen und doch getrennt voneinander autark erfolgreich zu sein.
[image:image-1]"Die fabelhafte Welt der Amélie" von Regisseur Jean Jeunet gehört zweifelsohne dazu. Sie machte nicht nur die junge Hauptdarstellerin Audrey Tautou schlagartig berühmt, sondern verhalf auch dem Komponisten Yann Tiersen zu einer breiteren Akzeptanz.
Als 2001 "Amélie" in die Kinos kam, konnte Yann Tiersen in Frankreich mit einigen Platten für Aufsehen sorgen - sogar zwei goldene Schallplatten gab es für "Le Phare" und "Absente". Doch erst die Geschichte der jungen Amélie Poulain, die in einem farblich überbordernden Paris dem Glück ihrer Mitmenschen auf die Sprünge hilft, sich aber vor lauter Schüchternheit ihrer eigenen großen Liebe stellt, lässt auch Tiersens kompositorisches Talent erstrahlen, da seine Stücke wie ein tönernes Spiegelbild der Protagonistin fungierten, in dem sich die eigene Traurigkeit mit der kindlichen Freude über das Wohlergehen der Anderen vermischt.
Doch dieser Erfolg hatte einen Nachteil: Er limitierte Tiersen auf den Ruf eines leichtfüßigen Arthouse-Komponisten. So klang bereits die nächste Auftragsarbeit zum deutschen Ostalgie-Streifen "Good Bye, Lenin!" mit Daniel Brühl in der Hauptrolle ein bisschen zu vorhersehbar, wobei hier auf hohem Niveau gejammert wird. Schließlich ist das Talent des aus Brest stammenden und mittlerweile auf der Insel Ouessac lebenden Multiinstrumentalisten viel zu groß, als dass man hier von schlechten Platten reden kann. "Good Bye, Lenin!" gehörte eben nicht zu seinen absolut herausragenden Werken.
Aber Yann Tiersen ist so viel mehr. Das zeigt nun das ausladende Kompendium "Portrait", bei dem der Musiker 25 Songs aus seiner Karriere zusammen mit Gastmusikern neu aufgenommen hat. Mehr noch als Geschenk für seine treue Hörerschaft, ist "Portrait" auch ein kleines Präsent an Yann selbst, der dieses Mal die Vorzüge eines rein analogen Aufnahmeverfahrens geniessen wollte - eingespielt wurden die Stücke in Tiersens Studio auf Zwei-Zoll-Tonbänder, abgemischt auf Viertel-Zoll und dann auf den Tonträger gepresst.
Daraus ergibt sich zwangsläufig eine gewisse Spannung beim Einspielen der Stücke, da sämtliche digitalen Verbesserungstechniken wegfielen. Diese Dynamik war Tiersen aber wichtig, um ein paar Stücken neues Leben einzuhauchen. "Comptine d'Un Autre Été (L'Après-Midi)", bekannt aus dem "Amélie"-Film beispielsweise ist Tiersen laut Pressetext schon immer ein Dorn im Auge gewesen. Er selbst ist damit nie so richtig zufrieden gewesen, weil es in Windeseile für den Streifen fertig werden musste. Auf "Portrait" hören wir das Stück so, wie es Tiersen eigentlich haben wollte. Das Tempo seines Spiels variiert er tatsächlich viel stärker im Vergleich zur ersten Version,die nun mit einer größeren Strahlkraft versehen ist.
Viel wichtiger ist jedoch, dass der Musiker bei diesem Querschnitt auch seinen Nimbus als vergesitigten Gralshüter der Hochkultur beiseite legen kann. "Closer", das er mit Blonde Redhead eingespielt hat, kommt beispielsweise dem Dream-Pop extrem nahe. "Chapter 19" dagegen gibt sich als überraschend schwarze Ballade aus, auch dank des intensiven Gesangs von Ólavur Jàkupsson. Jener ist bei weiteren Stücken zu hören und der imaginäre Link zu Tiersens Vergangenheit. Denn als Jugendlicher spielte der Komponist bei diversen regionalen Post-Punk-Bands; Joy Division habe ihn inspiriert. Das scheint bei "Portrait" immer wieder durch und macht dieses Kompendium zu einem vielschichtigen Hörgenuss, bei dem die Grenzen zwischen Klassik und Pop immer wieder verschwimmen.
[image:image-2]Bestimmt hat Gian Marco Castro auch den einen oder anderen Kontakt mit dem Werk von Yann Tiersen gehabt, wenngleich er in seiner persönlichen Nachricht an die UNTER.TON-Redaktion seine große Eingebung durch die Musik von Max Richter erhalten habe. Sie führte zu Castros erstem Album "Out Of The Past", die, im Gegensatz zu Tiersens humoresken Ausbrüchen, sich voll und ganz einer kontemplativen Melancholie unterwirft. Damit führt er eine Linie fort, die bei Eric Satie und seiner bahnbrechenden Komposition "Gymnopédie" ihren Anfang genommen hat.
Es ist diese überbordende Einfachheit, die Saties Stücke auszeichneten. Sie holten die Klassik aus dem Elfenbeinturm der Virtuosität und beeiflussen die Nachwelt bis heute. So hat die Gruppe Japan ihr wunderbares "Nightporter" in Anlehnung an Saties berühmter ersten "Gymnopédie" komponiert. Man könnte so weit gehen, Satie als den ersten Chill-Out-Komponisten zu bezeichnen, der seine Stücke bewusst unaufdringlich gestaltet hat, damit sie wie ein "Möbelstück" funktionieren (so nannte er fünf Nummern für Salonorchester denn auch "Musique d'ameublement").
Was sich im ersten Moment radikal anhört, ist mittlerweile Realität geworden: ewiges Gedudel in Einkaufshäusern, "Fahrstuhlmusik", die einem die Gehörgänge aufs Vortrefflichste tapezieren und so für eine Wohlfühlatmosphäre sorgen soll. Tatsächlich ist das Gegenteil meist der Fall.
Von dieser dann doch wenig nachhaltigen, bisweilen enervierenden Notenaneinanderreihung ist Castro natürlich Lichtjahre entfernt. Denn bei aller Simplizität in Melodieführung und Arrangement lebt "Out Of The Past" von einer weltschmerzlich durchtränkten Emotion, das das Individuum auf sich zurückwirft. In den sanft angeschlagenen Tönen beim Eröffnungsstück "The Golden Age Is Over" (übrigens nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Stück von Woodkid) ergreift dieses Gefühl einer unerklärlichen Traurigkeit sogleich Besitz von einem.
Besonders im Zusammenspiel mit den Streichern, die sich in langgezogenen Noten in ihrer ganzen Schönheit präsentieren und den tröpfelnden Klavierparts ein weites Feld bereitstellen (beispielhaft in "A Moment Of Happiness" dargelegt), ergießt sich alle einsame Stille, die an eine romantische Abgeschiedenheit des Individuums in einer von Natur umwuchernden Burgruine erinnert. Die Zivilisation mit ihren Nichtig- und Oberflächlichkieten scheint weit weg zu sein, es zählt nur der Moment der Abgeschiedenheit.
Castro schmeckt bei seinen Klavierkompositionen, die teilweise mit Beethovens berühmter "Mondscheinsonate" verglichen werden können, der Stille zwischen den Tönen nach, verschleppt das Tempo immer wieder oder pendelt sich bei "Fyrir Jóhann" in einen Dreiklang, der den Hörer mit kleinen, aber bestimmten Schritten in die Ruhe und Transzendenz geleitet. Hier geschieht das Große im Kleinen, hier überbordet das Sentiment durch winzige tönerne Gesten, die in der Summe sich zum Stillleben der Melancholie verdichten. "Out Of The Past" ist ein großes Ausrufezeichen eines musikalisch äußerst beschlagenen Twentysomething, der sicherlich seinen Weg gehen wird.
Ob dieser dann zu jenen hohen Weihen führen wird, wie sie Yann Tiersen zuteil wurden, und ob er auch mal in einigen Jahren wie der große Bretone sein Werk betrachten und in einem großen Portrait nachbearbeiten kann, bleibt noch abzuwarten. Die Chancen dafür stehen allerdings gar nicht schlecht.
||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 06.12.2019 | KONTAKT | WEITER: VIECH VS. BUNTSPECHT>
Webseite:
www.yanntiersen.com
www.facebook.com/RealGMCastro
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