2/24: REAL, CREATING.PARADISE, J DEAD, TRAIN TO SPAIN, VLIMMER, mACHT - AUFGESCHOBEN, NICHT AUFGEHOBEN (DER NACHBEARBEITUNG ZWEITER TEIL) - UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR

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2/24: REAL, CREATING.PARADISE, J DEAD, TRAIN TO SPAIN, VLIMMER, mACHT - AUFGESCHOBEN, NICHT AUFGEHOBEN (DER NACHBEARBEITUNG ZWEITER TEIL)

Kling & Klang > KURZ ANGESPIELT > 2024
Und auf einmal kommt Jens Nagel, der mit seinem Projekt Real bislang ein Nischendasein geführt hat (was auch daran liegt, dass der Musiker völlig autonom und ohne großes Budget für flächendeckende Werbung seine Kunst vertreibt), und bringt sein zweites Album "Rückzug" heraus. Auf dieser Platte finden wir keine fett abgemischten Synthesizer, keine bis zum Anschlag aufgeblähten Beats oder anderweitig bombastischen Technikfirlefanz. Aber dafür bietet die Platte mit "Unversöhnlich" den vielleicht interessantesten, weil radikal am Puls der Zeit vorbeigehenden EBM-Track, der in seinen stärksten Momenten an die weiland avantgardistischen Calva Y Nada erinnert. Dieser Song steht insofern stellvertretend für das komplette Album, als dass "Rückzug" auf die subkulturelle elektronische Klangerzeugung der frühen und mittleren 1990er schielt, als technoider Hellectro noch nicht erfunden, klassischer EBM aber schon auf dem Rückzug war. In dieser Zeit hat Jens übrigens mit dem Musizieren begonnen, und offensichtlich ist es diese Epoche, die tief in seiner musikalischen DNA implementiert wurde. "Rückzug" verfeinert damit seine musikalischen Visionen, die er bereits mit dem Erstling "Avalon" sehr konkret realisierte. Dabei scheut er sich auch nicht vor auditiven Eskapaden. So schichten sich auf "Der Pakt" eine Elektronikspur auf die andere, flankiert von einigen Sprachsamples, nur um danach in überraschender Harmonik überzugleiten - um dann erneut in den akustischen Hades abzutauchen. "Rückzug" ist kein Album für die Diskotheken, sondern ein Werk, das in aller Ruhe zu Hause erschlossen werden muss. Dann aber entfaltet das Album seine größte Sogwirkung.

Ebenfalls mit ihrer Musik rund 25 Jahre zu spät sind creating.paradise. Und das ist auch verdammt gut so. Es ist eigentlich eine Schande, dass dieses deutsche Projekt viel zu wenig Aufmerksamkeit erhält. Nach ihrem vor ziemlich genau einem Jahr erschienenen "Machineries Of Lies" (die von UNTER.TON natürlich auch besprochen wurde) ist nun mit "So True" die nächste EP auf dem Markt, die an den Vorgänger direkt anschließt (dieser endete nämlich mit einer der Prelude von "So True"). Der Titelsong liebäugelt zu Beginn noch mit Klängen, die an frühe Depeche Mode erinnern, ehe das Projekt der beiden Björns (Mühlnickel und  Bindrich-Honert) seinen extrem frostigen Sound aufbaut. Mit dem nachfolgenden Song "Disillusion 1.93e" (die Zahlen-Buchstaben-Kombination findet sich in jedem Titel und werden im Folgenden ausgespart, der Sinn bleibt dem Autor dieser Zeilen jedoch verborgen) begibt man sich stilistisch in die Nähe von Neuroticfish zu seinen Anfangstagen. Inhaltlich kritisieren creating.paradise unsere Gesellschaft, die nicht im Stande ist, den Planeten auch für nachkommende Generationen lebenswert zu machen. Was bei "Disillusion" noch sanft metaphorisiert wurde, ist bei "The Collapse" unmissverständlich: Der Mensch zerstört sein Habitat und bedroht letzten Endes sich selbst mit seiner Lebensweise. Die technoiden Sequenzen versprühen ebenfalls kaum Hoffnung. Der Mensch als weltweiter Fehler? "World Wide Error" setzt zwar den Fokus etwas anders, doch solche Gedanken sind sicherlich nicht abwegig. Ob wir das Ruder noch einmal rumreißen können? creating.paradise finden klare Worte am Ende des Songs. "it's too late...just too late" - bittere Erkenntnisse, gegossen in ausdrucksstarke elektronische Musik.

Mit schöner Regelmäßigkeit fliegt uns auch Musik von J:Dead zu, einem Projekt des Musikers Jay Taylor. Der Brite unterstützte bereits unter anderem Bands wie Tactical Sekt oder Tyske Ludder als Live-Drummer. Sein Faible für den Rhythmus an sich bricht sich auch in seinem neuesten Album Bahn; die Songs auf seinem aktuellen Longplayer "Roots" besitzen markantes, dezent nach vorne gestelltes Schlagwerk. Selbst ruhigere Nummern wie "Feathers" erhalten dadurch eine andere Energie und wirken insgesamt druckvoller. Herausragend ist allerdings Jays Stimme, die kraftvoll die Nummern trägt und in den tiefen Lagen sogar an Chris Harms erinnert, der, bevor er mit Lord of The Lost zu knalligem ESC-Gothic avancierte, als UnterART einem großartigen Electro-Projekt vorstand. Wandert Jays Organ in die Höhen (die er übrigens auch ohne Probleme meistert) bewegt er sich in der stlistischen Nähe diverser skandinavischer Synthie-Pop-Combos. Trotz vieler musikalischer Querverweise bleibt "Roots" ein sehr eigenständiges Werk, bestehend aus sieben Songs, die ohne Leistungsabfall die Meßlatte weiter oben halten. Dabei haben gerade Stücke wie "Let Go" eine größere Aufmerksamkeit verdient. Der Song rauscht mit knapp 150 BpM und einer energiegeladenen Melodie über die Gehörgänge geradewegs in die Bewegungsapparate. Will sagen: Das Lied ist prädestiniert für die Clubs. Das gleiche gilt für "Surrendering", das im Spannungsfeld zwischen cleanen Vocals in den Strophen und verzerrten Shouts im Refrain (und dank einer sympathisch vor sich hinrollende Basslinie) eine intensive Dynamik aufbaut. J:Dead beweist mit "Roots" ein weiteres Mal seine Klasse als spannender zeitgenössischer Musiker elektronischer Tanzmusik.

Wenn man aus den Synthesizer das letzte Staubkörnchen und Schmutzpartikelchen rausbläst und die Oberfläche mit einem weichen Tuch sanft poliert, kommen sicherlich solche Töne, wie sie Train To Spain generieren. Auch wenn der Name an südeuropäische Gefilde erinnert, stammt dieses männlich-weibliche Duo aus Schweden. Und wer einigermaßen textfest bei famosen 80er Jahre Songs ist, weiß sofort: "Take a cruise to china or a train to spain" - diese Zeile stammt vom formidablen "The Things That Dreams Are Made Of", dem ersten Stück auf dem Bestseller "Dare!" von The Human League. Womit Sängerin Helena Wigeborn und Klangzauberer Jonas Rasmusson gleich ihre musikalische Sozialisation preisgeben. Ihr neuestes Werk ist eine Jubelarie auf die elektronische Popmusik der 80er Jahre und ihre bisweilen käsigen, aber doch liebenswerten Wiedererkennungsmomente. Wenn beispielsweise im Titelsong zu Beginn die berühmten knalligen Drumfills einsetzen, sieht man sie gleich vor sich, die Fönfrisuren und Schulterpolster. Natürlich ist Train To Spain keine reine Nostalgieveranstaltung; die Songs sind in ihren Arrangements und vor allem durch den satten Sound sofort als Stücke der Gegenwart erkennbar. Doch die Melodieverliebtheit Rasmussons und Wigeborns klarer, unprätentiöser Gesang sind angelehnt an den oftmals und zu Unrecht verlachten Italo-Disco-Sound. Denn so muss eigentlich Electro-Pop: elf Songs, allesamt um die radiofreundlichen und leicht bekömmlichen drei Minuten herum und mit ohrwurmverdächtigen Akkorden in den Refrains. Neben Nuovo Testamento sind Train To Spain das bemerkenswerteste Projekt in diesem Genre.

Nach dem eindringlich fatalsitischen Album "Zerschöpfung", einem Wortspiel aus Erschöpfung und Zerstörung, legt Alexander Leonard Donat alias Vlimmer ein weiteres Werk nach. "Mehrschöpfung" ist natürlich als Addendum zu verstehen; auch das nächtlich blaue Album-Artwork wurde beibehalten. Wer nun eine schnöde Remix-Platte vermutet, wird aber eines besseren belehrt. Sechs weitere Song kredenzt uns der Berliner, und diese sind das sprichwörtliche i-Tüpfelchen eines immens arbeitsreichen 2023 für den Musiker. Seine Energie kennt anscheinend keine Grenzen, und so öffnet auch "Mehrschöpfung" die eisenbschlagenen Tore zum eigenwilligen Klangverständis Donats, die ihn solche Diamanten wie "Luftmangel" erdenken lässt. Hier gelingt ihm das Kunststück, mit seinen Texten eine extrem dystopische Gefühlswelt aufzubauen, während sich in der Musik, die sich wieder einmal geschickt jeder Kategorisierung entzieht, so etwas wie Wohlklang und Eingängigkeit ausbreitet. Popmusik wird melancholisch. Oder wird die Melancholie populär? Bei Vlimmer bleibt die Niedergeschlagenheit auf jeden Fall die große Triebfeder. Doch variiert er die Intensität der Traurigkeit mit jedem neuen Song. So darf in "Stirnseite" ein Piano gendakenverloren seine Kreise innerhalb der Komposition ziehen, während ein rollender Bass für die nötige Bodenhaftung sorgt. Insgesamt erkennt man in dieser Nummer auch Donats Liebe für Indie- und Dreampop. Dem gegenüber steht das rhythmusbetonte Instrumental "Trotzmacht", das beweist, dass Alexander auch ohne seine unbestritten großartige Sangesleistung spannende Stücke kreiert. Das ist das erschreckende an diesem Musiker: Es gibt anscheinend nichts, was er nicht kann. Außer Schlager vielleicht.

Dass mACHT existiert, ist einem Streit zu verdanken. Harry Rag, Sänger von S.Y.P.H., einer der ersten deutschen Punkbands überhaupt und Teil einer sich vor rund 45 Jahren formierenden subkulturellen Jugendbewegung, die nur kurze Zeit später als Neue Deutsche Welle ihre Ideale verraten würden, wollte zusammen mit seinen alten Mitstreitern 2011 ein neues Album aufnehmen. Der Sänger überwarf sich jedoch mit dem Rest der Band, zu dem zu diesem Zeitpunkt immer noch Uwe Jahnke als einer der frühesten Wegbegleiter und Georg Zingl, der zuvor bei Stahlharfe dabei war, angehörte. Kurzerhand sollte Christian Schulte (Doc Schoko) den Gesang übernehmen, was aber per einstweiliger Verfügung von Rag unterbunden worden ist, sodass S.Y.P.H. seitdem auf Eis gelegt wurde, bis eine Einigung erzielt wird. So machten Jahnke, Zingl und Schulte alleine weiter und mACHT entstand. "1" ist allerdings vom zähem Altherrenpunk weit entfernt. "Akkustik Kraut Industrial Deutsch" nennen sie das, was sie machen. Um diesen kryptischen Begriff zu entzerren: Das Trio bewegt sich auf experimentellen Pfaden, baut luftig-poppige Sounds mit Post-Punk-Attitüde zusammen. Und ein bisschen Ur-NDW-Gefühl findet sich auch in den Stücken wieder. mACHT geht dabei erfrischend frei mit dem musikalischen Erbe um. In "Löffelvoller Groschen" erklingen an Kraftwerk gemahnende Vocoder-Stimmen in einem ganz anderen tönernen Kontext, "Passt nicht" dampft Rock'n'Roll wie einst Suicide auf seine Quintessenz ein, und "Brache" entzieht sich der Realität komplett. Am Ende des Albums ist klar: Punk ist tot, es lebe die mACHT!

||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 19.01.24 | KONTAKT | WEITER: GOLDEN APES "SCATTERED LIGHT", "OUR ASHES AT THE END OF THE DAY>

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                              © ||  UNTER.TON |  MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR | IM NETZ SEIT 02/04/2014

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