2/22: KID KNORKE+BETTY BLUESCREEN, ELVIS DE SADE, RECORD OF TIDES, BICYCLOPS, B.ASHRA: NACHZÜGLER TEIL II - UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR

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2/22: KID KNORKE+BETTY BLUESCREEN, ELVIS DE SADE, RECORD OF TIDES, BICYCLOPS, B.ASHRA: NACHZÜGLER TEIL II

Kling & Klang > KURZ ANGESPIELT > 2022
Aus Pinneberg stammt ja so manch schräger Vogel. Unter anderem die sich lieb frotzelnden Fernsehköche Tim Mälzer und Steffen Henssler (zumindest haben beide eine lange Zeit dort gelebt). Und dann gibt es da noch Kid Knorke und Betty Bluescreen, die, analog zu den Küchenmeistern, ebenfalls einen gewissen Punk in den Musikzirkus reinbringen. 8Bit-Fieperei, knackige Beats, Melodien wie aus einem Knallbonbon und ein bisschen EBM-Härte sind die Zutaten, die natürlich Assoziationen zu den C-64-Heroen von Welle:Erdball wecken. Besonders, wenn man sich Knorkes erste Solo-Ergüsse einverleibt, allen voran "Highscorefetish", ist die thematische Nähe zu W:Es erster Single "Nyntändo-Schock" nicht von der Hand zu weisen. Doch mit Betty findet er die richtige Partnerin, um ihr gemeinsames Debüt "Im Windschatten des Meteors" wie einen alten Arcade-Klassiker klingen zu lassen. Denn trotz fortschreitender Technik und der fast schon fotorealistischen Darstellungen in heutigen Videospielen, geht doch nichts über die einfachen, fast schon rührend verpixelten Games aus der Computer-Steinzeit. Schließlich geht der Spielspaß bei der Urversion von "Super Mario" auch nach fast 40 Jahren nicht verloren. Ähnlich verhält es sich mit diesem Album, bei dem Stücke "Atari Pary", "Aliens" oder "Betty 8bit" zunächst wie ziemlich knarzige, polternde und stolpernde Disco-Stampfer daherkommen, hinter denen man aber die anarchische Freude der beiden an der Musik förmlich greifen kann. Dass das abschließende "Game Over" ein Mash-Up aus verschiedenen Spiele-Soundtracks geworden ist, verwundert da niemanden mehr. Man hat Lust, seinen alten, grauen Nintendo-Kasten wieder an den Fernseher anzuschließen und loszuspielen.

Nicht erst seit gestern strömen aus der Isar-Metropole München seltsam traurige Töne, die so gar nicht zu dieser geleckten Stadt mit ihren ganzen Schickis und Mickis, die pradabehangen und louisvuittonbetascht durch die glanzvolle Maximilianstrasse flanieren, passen. Zwischen den ganzen Latte-Macchiato-Müttern und Bionade-Hipstern hat das Quartett Elvis De Sade alle Möglichkeiten ausgelotet, die urbane Tristesse in ihren Stücken zum Leuchten zu bringen. Bereits mit "Angelus Novus" gelang ihnen etwas, das man tiefenentspannte Traurigkeit nennen könnte. Elvis De Sade sind Post-Punker, aber mit einer ganz spezifischen Leichtigkeit beschlagen, die sie deutlich von anderen Trauercombos abhebt. Auch ihr erstes Album "World For Us" bedient sich einer ganz eigenwilligen Melange, die sich aus schwebenden Synthiewänden, erdigen Basslinien und seltsam surrealen Gitarrenläufen zusammensetzt. Darüber erklingt ein charmant unperfekter Gesang, der nicht als Störfaktor in der Gesamtkonstellation empfunden wird, sondern eben genau diese undefinierbare Stimmung trägt. "World For Us" ist ein blümerantes Album geworden, das sich auf der Schnittstelle zwischen dem Dies- und Jenseits befindet. Einen der neun Songs hervorzuheben, ist faktisch nicht möglich. Elvis de Sades musikalischer Erstschlag muss als Entität begriffen werden. Wobei "Eternal Doom" mit seinem unterschwellig verstörenden Finale noch einmal die unorthodoxe Art des Musikmachens dder Band unterstreicht. Elvis de Sade ist Independent im besten Sinne und ihr Album eine kleine Sensation.


Schon etwas länger unterwegs ist Sven Piayda mit seinem Projekt Record of Tides, das mit vertrakten Electro-Instrumentals versucht, alte Hörgewohnheiten aufzubrechen und die Lust auf neue klangliche Wege zu entfachen. Sein letztes Werk "Purchases" hat bereits im Sommer vergangenen Jahres das Licht der Welt erblickt - und ist erfahrungsgemäß unter dem Radar von UNTER.TON geflogen. Piayda selbst wurde bei uns vorstellig, um sein Projekt zu präsentieren. Dafür kann man ihm nicht genug danken. Denn er hat aufmerksam unser Magazin verfolgt und weiß: wir wollen überraschen und überrascht werden. Das schafft Piayda - und so spielend einfach obendrein. Es benötigt lediglich die Chuzpe, sich vom Song als grundlegende Struktur zu verabschieden. Das hat zwar zur Folge, dass Chaos zum Stilprinzip erhoben wird, doch der Mann weiß ziemlich genau, wie damit umzugehen ist. In seinen Stücken herrscht geregelte Unordnung: Innerhalb der Songs wechseln die Stimmungen, werden Breaks eingebaut und Samples als eigenes Instrument begriffen, das eine ganze Komposition tragen kann. Alles wirkt wie in schnellen Schnitten zusammengefügt, und doch wäre die Gesamtatmosphäre der insgesamt 16 Songs mit "chillig" sehr treffend umschrieben. Record Of Tides besitzt einen sophistischeren Ansatz für die elektronische Musik. "Purchases" könnte durchaus auch als klangliche Untermalung diverser Kunstinstallationen oder Vernissagen aktueller Maler oder Bildhauer herhalten. Schließlich ist der Anspruch bei Record Of Tides hoch. Es benötigt daher vielleicht die eine oder andere weitere Runde, um diesem Album gedanklich habhaft zu werden. Wenn man es dann aber geschafft hat, stellt sich größtmöglicher Hörgenuss ein.

Zu den vielleicht schönsten Momenten eines Kritikers gehört es, wenn ein musikalisches Werk künstlerischen Anspruch mit großer Eingängigkeit vereint. Chris Corner alias IAMX hat dies schon ein paar Mal geschafft, und auch Diorama konnten trotz ziemlich unorthodoxer Klänge ihre Album sehr anschmiegsam gestalten. Der aus Toronto stammende Phil Johnston verfolgt mit seinem Projekt Bicyclops einen recht ähnlichen Ansatz, wenngleich sein Stil sich komplett von den vorher genannten unterscheidet. Die fluffigen Downtempo-Stücke seines Erstlings "Marooned" durchsetzt er mit klanglichen Interruptionen. Die im Kern tiefenentspannten Stücke bekommen durch experimentelle Einschübe und ausgefuchste Rhythmen einige kleine Widerhaken. Darüber legt sich Phils Stimme wie Gaze über die Kompositionen, selbst wenn sie wie in "Blue Light" ziemlich zerheckselt und verfremdet aus den Boxen tönt. In manchen Stücken, so auch in "Intuition", wird eine deutliche Liebe für bassige Sounds deutlich, die ihn - zumindest teilweise - in die stilistische Nähe von Moderat bringen. Etwaige Verweise auf andere Künstlerinnen und Künstler sind aber angesichts des Ideenreichtums, der auf "Marooned" herrscht, ziemlich müßig. Tatsächlich gelingt es dem Mann aus Kanada, sich auf seinem Debüt deutlich zu positionieren. Traditionelle Songstrukturen werden aufgebrochen und nur noch in Spurenelementen wahrgenommen. Das bietet Bicyclops die Möglichkeit, sich nach Herzenslust auszutoben. "Marooned" kann der Anfang von etwas sehr Spannendem werden. Man muss den weiteren Weg von Bicyclops auf jeden Fall im Auge behalten.

Zum Abschluss läuft uns noch ein Altbekannter über den Weg: Bert Olke alias B.Ashra setzt sich in seinen Kompositionen meist mit den schwingungstechnischen Gegebenheiten seiner Umwelt auseinander. Der Mann transferiert mittels des Prinzips der kosmischen Oktave quasi alles in Musik: Von den Planeten unseres Sonnensystems bis hin zu den kleinsten Molekülen und Molekülverbindungen (gerne auch mal berauschende Kombinationen wie THC oder DMT). Mit "Satellites" verlässt er aber die bekannten Pfade. Die drei Songs sind in ihrer Ursprungssversion bereits 2017 auf dem Garbicz Festival entstanden und wurden nun im Studio neu arrangiert. "Satellites", "Emu In Mc Pomm" und "Devils Mountain" bestechen, wie bei B.Ashra eigentlich üblich, durch breite Synthieflächen, deren kontemplative Energie lediglich von kantigen Beats unterbrochen werden (besonders "Devils Mountain" jongliert gekonnt zwischen den beiden Polen entspannter Elektronik und frickeliger Rhytmik). Das halbstündige Mini-Album bietet einen perfekten auditiven Kurztrip raus aus dem Alltag und hinein in seine selbst erdachte Wohlfühloase. Welche das ist, kann jeder für sich herausfinden. B.Ashra liefert nur die Werkzeuge dazu in Form gleitender, unaufdringlicher Sounds, die sich auf direktem Weg über den Gehörgang in den Kopf einnisten, um dort die Phantasie zu befeuern. Auch wenn der Titel des Albums eher extraterrestrisch lokalisiert ist, klingen die Stücke alles andere als "from outer space". Eher wirken sie, bei aller Elektronik, ungemein organisch und sehr warm. Was soll man noch schreiben: Wieder mal alles richtig gemacht, Herr Olke. Chapeauchen!

||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 28.01.22 | KONTAKT | WEITER: VARIOUS ARTISTS "1979 - REVOLT INTO STYLE">

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Covers © Kid Knorke & Betty Bluescreen, Young & Cold Records (Elvis De Sade), Record Of Tides, Plutoid Records (Bicyclops), Separated Beats (B.Ashra)

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