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3/21: BILLY ZACH, TAUSEND AUGEN, DEAD ASTRONAUTS, DAGOBERT, SIVERT HØYEM - HART, ZART, SMART

Kling & Klang > KURZ ANGESPIELT > 2021

Gibt es nichts essentielleres, als sich mit voller Wucht in unsere Gefühle zu werfen? Und wie gut, dass es dafür immer die passende Musik gibt!

Wenn einen beispielsweise alles ankotzt, wären Billy Zach aus Hamburg ein perfekter auditiver Begleiter. Denn ihr zweites Album "Struggle On" klingt nach gärender Wut und Aggression. Ihr von New Wave und Post Punk beeinflusster Sound ist die gelebte Monotonie, wie die kahle Wand eines mutmaßlich stillgelegten Fabrikgebäude, welches das Plattencover ziert. Tatsächlich fühlt man sich nach "Struggle On" viel mehr im postindustriellen Manchester der Spätsiebziger verortet als in der Hansestadt. Das liegt nicht zuletzt auch an Stücken wie "Funny", die in ihrer nihilistischen Ästhetik einiges von Bands wie The Clash einge- und weiterdenken. Wo aber Sänger Joe Strummer mit alerter Stimme die Apokalypse fast schon herbeisehnt, zieht Billy Zach eher das enigmatische Timbre eines Nick Cave vor. Und sie gehen überraschende Wege: Während zu Beginn alles auf eine erwartbare Düster-Produktion hinsteuert, ändert sich zur zweiten Hälfte der Charakter von "Struggle On". Billy Zach entdecken ihre progressive Seite und dehnen beispielsweise ""Greed" und "Harry Treadmill" auf zwölf Minuten aus. In diesen Stücken lösen sich die Songstrukturen auf, psychedelische Soli im Stile von Iron Butterflys "In A Gadda Da Vida" gewinnen die Oberhand. Vielleicht ist es das, was die das Album umschließenden Stücke "Things Fall Apart" und "Things Fell Apart" ausdrücken wollen. "Struggle On" ist ein Album, das sich selbst hinterfragt und dekonstruiert. Das ist sicherlich anspruchsvoll. Aber wer hat schon gesagt, dass Musik immer eingängig sein muss?

Nach diesem Motto verfahren auch Tausend Augen aus Saarbrücken, eine weitere junge Combo, die es sich - ähnlich wie Billy Zach - zur Aufgabe gemacht hat, die Musik ihrer Eltern- oder vielleicht sogar schon Großelterngeneration aufzuleben. Dafür hat sich das Trio alten Aufnahmemobiliars angenommen. Tonbandmaschinen, Vintage-Orgeln und Synthesizer gehörten zum Standardrepertoire, um "Westend" zu realisieren. Das Endergebnis ist der Beweis, dass Krautrock auch heutzutage noch funktioniert. Maßgeblichen Anteil dazu tragen sicherlich Max Ludwig und Oliver Becker mit ihrem herrlichen NDW-Anti-Gesang und Alexander Schmietzkys Schlagzeugspiel, das an den stoischen Beat eines Jaki Liebezeit erinnert, ohne ihn zu kopieren. Zusammengesetzt ergeben die individuellen Leistungen der Mitglieder ein Album, welches das Attribut "spacig" nicht nur verdient, sondern quasi mitdefiniert. Man höre sich einfach nur mal "Mana Mana" mit den blubbernden Sequenzen, den Laserstrahl-Synthies und den schummrigen Orgelparts an: so krautrockig klangen nicht mal Neu! oder Can in ihren wildesten Momenten. Und die erwähnten "Silbernen Maschinen" könnten glatt als deutschsprachige Reminiszenz von Hawkwinds "Silver Machine" durchgehen. Doch sie sind auch kleine Post-Punker. Davon zeugt "White Noise", der sich durch eine deutlich aggressivere Grundrichtung auszeichnet. Das einzige, was wirklich erschreckend an "Westend" ist: Tausend Augen spielen alle Stile mit einer souveränen Lässigkeit, die nicht ein Debüt-Album dahinter vermuten lässt, so saucool sind die Jungs.

Einen Quasi-Neustart hat die amerikanische Synthie-Formation Dead Astronauts hinlegen müssen. Nachdem Sängerin Hayley Stewart ihren "partner in crime" Jared Kyle verlassen hat, um ihre Soloaktivitäten als Mecha Maiko zu intensivieren, holte sich der Zurückgelassene Florence Bullock als neue Sängerin und Slade Templeton (Crying Vessel) als inoffizielles drittes Mitglied. Dessen Produzentenrolle wirkt sich auch auf Dead Astronauts neue musikalische Ästhetik aus. Der vom aktuellen Synthwave geprägte, kantige Sound der Toten Astronauten schleicht sich aber erst langsam in das neue Album "Silhouettes" ein. Während viele Gruppen nur allzugerne mit einem Diskotheken-Fetzer beginnen, setzen sie an den Anfang mit "Low Lights" eine tiefenentspannte Ambient-Nummer. Doch spätestens bei "Forgetting Me" kommen die wahren Vorzüge der Band aus Seattle, Washington zum Vorschein. Mit einer übersichtlichen, trockenen Beat-Sektion, mollschwangeren Synthie-Parts und dem dynamischen Wechselspiel aus Jareds tiefer Stimme und Florences ätherischem Organ entsteht ein solides Album, das es sich zwischen den Stühlen bequem gemacht hat. Denn trotz der Hinwendung zu aktuellen Strömungen der elektronischen Klangerzeugung, lassen "Missing Person" und "Pain, I Know" eine unüberhörbare Liebe zu den Post-Punk-Strukturen der 1980er Jahre ausmachen. In diesem Spannungsfeld entwächst ein dunkelbunter Pop-Sound, der mit zunehmender Spieldauer von "Silhouettes" ein gesteigertes Suchtpotenzial entwickelt.

Musikalische Grenzgänge sind das Salz in der Suppe und treiben Musikjournalisten regelmäßig Schweißperlen auf die Stirn. Dagobert gehört dieser Riege an: Die Süddeutsche Zeitung titulierte seine Musik als "Elektro-Schlager", was sicherlich auch daran liegt, das Lukas Jäger, so Dagoberts bürgerlicher Name, unter anderem Olaf Malolepski von den Flippers und David Hasselhoff, aber auch Leonard Cohen und Hank Williams als Vorbilder nennt. Das hat ihn im Laufe der Jahre zu einem der schillerndsten Figuren im Musikzirkus avancieren lassen. "Jäger" wird diesen Nimbus weiter kultivieren. Dafür sorgen die gegensätzlichen Songs, die Dagobert mit einer frechen Selbstverständlichkeit zusammenbringt. Vom jubilierenden Get-Well-Soon-Soundalike in "For The Love Of Marie" über die Chill-Dein-Leben-Hymne "Nie wieder arbeiten" bis hin zu absoluten Tanznummern wie "Der heilige Gral" und "Aldebaran" durchpflügt der gebürtige Schweizer nicht uncharmant die ganze bundesdeutsche Popgeschichte, beginnend ab der Neuen Deutschen Welle. Vor allem "Wunderwerk der Natur" könnte an so einem NDW-Disco-Abend nahtlos an "Zauberstab" von ZaZa gespielt werden. Das mittlerweile vierte Album lebt sich nach allen Seiten hin aus, bleibt im Titelsong und "Im Wald" sogar nebulös enigmatisch bis plakativ melancholisch. "Jäger" wirkt wie eine tönerne bipolare Störung: himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt, verpackt in wohlklingenden Synthie-Nummern und dadurch auf wundersame Weise subversiv, ohne Anspruch auf Subversion zu besitzen.

Und dann gibt es da noch Musiker, die sind einfach über alle Dingen erhaben. Sivert Høyem beispielsweise könnte auch neben Baustellenlärm oder einer rauschenden Toilettenspülung singen: Es wäre immer unvergesslich. Sein markanter Bariton hat ihn zusammen mit dem wunderbaren Gitarrenspiel von Robert Soli Burås zum markanten Aushängeschild der Band Madrugada werden lassen. Diese Zeiten sind leider schon sehr langen vorbei: Als Burås 2007 überraschend verstarb, löste sich die Gruppe auf und Sivert macht seitdem solo weiter. Der Verlust des kongenialen Partners lässt sich nur schwer aufwiegen. Deswegen muss man versuchen, Høyems Post-Madrugada-Oeuvre gesondert betrachten. Immerhin in seinem Heimatland Norwegen landeten fast alle seine Veröffentlichungen an die Spitze der Charts. Der Rest der Welt nahm eher verhalten Notiz von ihm - ein Unding, denn kaum ein anderer zeitgenössischer Musiker schafft es, Anspruch und Eingängigkeit so perfekt zu verbinden. Die neue EP "Roses Of Neurosis" macht da keine Ausnahme. Und es spielt auch keine Rolle, ob in "Devotional" pluckernde Elektrobeats, schneidiger Foreigner-Bombast-Pop bei "Safe Return" oder an Madrugada heranreichender Gitarren-Rock in "Run Away" die Wahl der musikalischen Waffen darstellen: Høyem thront darüber wie ein trauriger König der Töne. Sein Organ hat in all den Jahren nicht einen Jota Charisma und Strahlkraft verloren. Er ist und bleibt Norwegens wichtigster Rockmusiker. Da prophezeihen wir mal ein fulminantes neues Album.

||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 01.02.21 | KONTAKT | WEITER: NEØV VS. LAMBS & WOLVES >

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Webseiten:
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www.deadastronauts.com
www.dagobert-musik.de
www.siverthoyem.com


Covers © La Pochette Surprise (Billy Zach), This Charming Man/Cargo (Tausend Augen), Cold Transmission (Dead Astronauts), RecordJet (Dagobert), Hektor Grammofon (Sivert Høyem)

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