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THEATRE OF HATE "WESTWORLD (DELUXE EDITION)": WIEDERGEBURT DER POST-PUNK-EINTAGSFLIEGE

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"Niemand, der diesen Song gehört hat, wird ihn je wieder vergessen". Selbstbewusst klingt Theatre-Of-Hate-Sänger Kirk Brandon im Interview mit Pat Gilbert, das er für die Wiederveröffentlichung des Albums "Westworld" gegeben hat und im Booklet des liebevoll gestalteten Re-Issues nachzulesen ist. Es handelt sich dabei natürlich vom Titelsong "Do You Believe In The Westworld?", jenem wunderbaren Post-Punk-Kleinod aus dem Jahr 1982.

Seine Aussage trifft den Nagel auf den Kopf. Die archaischen Trommeln, die aus einer bedrohlichen Finsternis auf die Bühne treten, gefolgt von einem hypnotischen Basslauf und einer Gitarrenfigur, die ebenso aus der Feder Ennio Morricones hätte stammen können, dann Brandons alertes Organ, das scheinbar die Apokalypse verkündet, während ein stotterndes Saxophon dieser schamanischen Nummer zusätzliche Intensität verleiht: So freigeistig und von allen Konventionen losgelöst war in diesem Jahr kein anderer Song in den Charts.

Das Stück steht im Schatten des sich zuspitzenden Kalten Krieges und versteht sich als Parabel für die Spannungen zwischen einem Amerika unter Ronald Reagan (dessen Wahlsieg mindestens genauso sorgenvoll beäugt wurde wie jener von Donald Trump) und der Sowjetunion unter dem alternden Staatsoberhaupt Leonid Breschnew. Im Song schießt ein "Cowboy" einen "Bären" nieder, ehe sich dieser selbst richtet.
Es herrscht eine latente Angst vor dem atomaren Erstschlag, und diese scheint sich in jeder Note von "Do You Believe In The Westworld" zu manifestieren. Noch nie war "No Future" so sinnstiftend wie hier.


Als die Single in die Läden kommt, werden Theatre Of Hate bereits in Indiekreisen hoch gehandelt. Die Mitglieder mischen Ende der 1970er in den relativ kurzlebigen Punk-Combos wie The Pack, The Crisis und The Straps mit, ehe sich ein harter Kern mit Brandon, Stan Stammers (Bass) und John "Boy" Lennard (Saxophon) herauskristallisiert. Die Stelle des Gitarristen und des Schlagzeugers wechseln häufig. Zeitweilig sind auch Drummer Nigel Preston und Gitarrist Billy Duffy mit von der Partie. Sie sollten später vor allem durch die Formation The Cult (Duffy) und Sex Gang Children (Preston) gefeierte Gothic-Musiker werden.

Der Bandname passt indes wie die Faust aufs Auge: Die Wut und Energie des Punks behält das Quintett bei, die Architektur ihrer Stücke ist aber wesentlich komplexer und pathetischer als bei den ungefilterten Drei-Akkord-Nummern. Und mit Boy Lennard haben sie einen versierten Musiker in den Reihen, dessen künstlerische Wurzeln im Jazz auszumachen sind. "Wie die frühen Roxy Music" sollten TOH nach Vorstellung des blondschopfigen Frontmannes klingen. Die Chancen, das zu erreichen, haben in dieser Konstellation nicht schlecht gestanden.

"Wir waren wie eine Gruppe emotionaler Handgranaten, deren Sicherungsstifte beim ersten gemeinsamen Spielen heraugezogen wurden", erinnert sich der Saxophonist an die ersten Proben. Es folgen mehrere Live-Auftritte, die sie – für damalige Zeit nicht unüblichen – auf Vinyl veröffentlichten: "He Who Dares Win" wird zum inoffiziellen Debüt-Album.

Es sollte noch rund ein Jahr vergehen, bis die erprobten und von den Zuschauern frenetisch bejubelten Stücken auf "Westworld" in einer wohl ausbalancierten Studioversion veröffentlicht werden sollten. Produziert hat das Album übrigens Clash-Gitarrist Mick Jones, der die Jungs bei einem ihrer Auftritte sah.

Ihre Experimentierfreude sowie ihre explosiven Live-Auftritte galt es nun, ins Studio zu transportieren. Einige Kritiker sehen darin den Schwachpunkt des Albums: Es würde genau diesen Talenten der Band nicht gerecht werden. Ein wenig nachvollziehbar ist das schon, hört man sich die Live-CD an, die zusammen mit dem Album und einem weiteren Silberling mit BBC-Sessions und alternativen Mixen die Wiederveröffentlichung komplettieren. Klangtechnisch lässt diese Aufnahme von einem Konzert in Wien zwar einiges zu wünschen übrig. Als Dokument für den Werdegang von Theatre Of Hate, die ihren Punkwurzeln "on stage" immer noch freien Lauf lassen, ist diese Scheibe jedoch sehr aufschlussreich.

Aller negativer Kritik zum Trotz und mit einem quasi verschwindend geringem Werbebudget gelingt es Brandon, Stammers und Lennard, "Westworld" in die englischen Charts auf einen beachtlichen 17. Platz zu hieven. Das liegt sicherlich auch an der Unterstützung von Musikjournalist John Peel, der die Jungs mehrmals in seine Radiosendung einlädt. Und er ist es, der TOH bei ihrem ersten Auftritt bei "Top Of The Pops" ankündigt – was Stammers bis heute etwas verschnupft reagieren lässt: Da sie die erste Band in dieser Sendung vom Februar 1982 sind, spricht Peel über das so markante Drum-Intro ihrer Single hinweg seine Begrüßung. Irgendetwas ist eben immer.

Das Fünfergespann geht nun aufs Ganze und tourt intensiv durchs Land und ganz Europa, im Gepäck ihr erfolgreiches Studio-Album. Das Werk ist von einer eigenartigen Düsternis durchzogen. Die kann sich mal als Americana-Variante in "Conquistador" zeigen, mal als mitternächtliches Saxophon-Solo in "Anniversary" durchschlagen. Und selbst der bekannt heitere Zirkusmarsch verstärkt als Intermezzo in "Freaks" nur die bedrohliche Atmosphäre, die von diesem Song ausgeht. Hier kommen eher Killer-Clowns um die Ecke als ihre harmlos tollpatschigen Kollegen. Kurzum: "Westworld" besitzt augenscheinlich genug Potenzial, um Theatre Of Hate in eine glorreiche Post-Punk-Zukunft zu katapultieren.

Wie es das Schicksal aber will, kommt es kurz nach der Veröffentlichung des Albums zum handfesten Streit auf der Tournee. Das Theater hatte seine Pforten geschlossen. Als wenig aussagekräftige Hinterlassenschaft wird "Aria Of The Devil" veröffentlicht, ein klassisches "unter ferner liefen"-Album, das kaum beachtet wird. Brandon und Stammers schaffen einige Jahre später mit massentauglicherem Power-Pop als Spear Of Destiny einen veritablen Hit in England ("Never Take Me Alive"), fliegen aber weitgehend unter dem Mainstream-Radar.

Die Wiederveröffentlichung des rund 35 Jahre alten Meisterwerks geht übrigens einher mit der Reaktivierung von Theatre Of Hate. Über eine Crowdfunding-Kampagne veröffentlichen sie dieses Jahr das Alterswerk "Kinshi". Von Milde aber keine Spur. Brandons Stimme klingt zwar etwas dunkler, was die Stücke gesetzter wirken lässt. Seine eigentümliche Phrasierung hat er aber beibehalten. Und auch die übrigen Mitglieder haben nichts aus ihren Punk-Kindertagen verlernt. Sie sind wie Rotweine, die im Alter alle besser werden – das gilt natürlich auch und besonders bei "Westworld", dessen Aktualität heute erschreckender denn je ist.

||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 23.11.16 | KONTAKT | WEITER: ROME VS. ROTERSAND >

Webseite:
www.kirkbrandon.com

www.stanstammers.com
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COVER © EASTERSNOW RECORDS/CHERRY RED

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