VANIISH VS. SEASURFER: FEEL-GOOD-MELANCHOLIE - UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR

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VANIISH VS. SEASURFER: FEEL-GOOD-MELANCHOLIE

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Wie eine Feuersbrunst tobte der Punk in den 1970ern und fegte alles hinweg, was die Rockmusik auch nur im Ansatz elitär und sophistisch wirken ließ. Binnen weniger Jahre verbrannten die pöbelnden Drei-Akkord-Milizen jedoch am Ende auch sich selbst; nur unter den Trümmern glimmte es noch schwach. Eine in ihrer Radikalität erschöpfte Subkultur, die sich einst an die Oberfläche gewagt und den großen Plattenkonzernen einen gehörigen Schrecken eingejagt hatte, kapitulierte - und zog sich in ihre Nische zurück. Die wütenden Schreihälse von einst wurden von nachdenklichen Intellektuellen abgelöst – auf Punk folgte Post-Punk. Der kleine Bruder des polternden Anarchos entwickelte sich über Jahre hinweg zum wichtigen Ideengeber für verschiedene Stilrichtungen. Bis zum heutigen Tag lebt sein Geist im Tun und Wirken jener Bands weiter, die das Oeuvre solcher Pioniere wie Joy Division oder Siouxsie & The Banshees genauestens studiert haben. Vaniish und Seasurfer gehören sicher dazu: Ihre Alben "Memory Work" und "Dive In" peppen den traditionell veröffentlichungsschwachen Sommer gehörig auf...

Keven Tecon stammt aus San Francisco – einem sonnenverwöhnten Ort, der so gar nicht zu seinen düsteren Sounds passen mag. Wie aber schon die Vergangenheit lehrte, ist die Melancholie kein Wesen, das sich nur in verregnet-grauen Gegenden heimisch fühlt. Selbst die sogenannten "Hundstage", also jene Tage im August, wenn die Sonne mit unbarmherziger Kraft auf die Erde niederbrennt und das Leben zwangsläufig zum Erliegen kommen lässt, erwecken in sensiblen Seelen das Gefühl von Niedergeschlagenheit. Kevin, der bereits mit seiner Vorgängerband Veil Veil Vanish seine Vorliebe für mollschwangere Sounds unter Beweis gestellt hat, gründete diese neue Formation aus einem traurigen Anlass heraus: Seine Mutter starb Anfang vergangenen Jahres, als der Sänger gerade eine Tour durch Osteuropa absolvierte.

Es kann nur darüber spekuliert werden, wie stark "Memory Work" von diesem schicksalhaften Ereignis geprägt wurde. Im Vergleich zu seinen früheren Werken ist jedoch eine deutlichere Schwermut zu verspüren. Es wäre sicherlich nicht vermessen zu behaupten, Vaniish ist für den Mastermind der Beginn eines neuen Kapitels - und ein letzter Blick zurück auf das, was geschehen ist. Psychologische Bewältigungsarbeit qua Musik. Doch selbst ohne dieses Hintergrundwissen funktioniert "Memory Work". Das liegt vor allem an dem perfekten Zusammenspiel von Tecons Mitstreiter, die teilweise aus der alten Band übernommen wurden.

Der Titelsong macht demnach keine Gefangenen und präsentiert sich gerade so, als ob der Geist von Ian Curtis in das Quartett gefahren wäre. Im Beisein eines vor sich hinpluckernden Computerrhythmus treffen sich Bass und Gitarre zu einem gespenstischen Stelldichein, während Keven in seinen Song eintaucht und in surrealen Gedanken versinkt. Besonders das somnambule "Fragment / Fatigue" wirkt wie die musikalische Untermalung einer persönlichen Apokalypse. Im Wechselspiel zwischen synthetischen und "echten" Rhythmen, beladen mit einer ungeheuren Portion Fatalismus, wandelt "Memory Work" dementsprechend wie durch eine Post-Punk-Ruhmeshalle, in der alle Pioniere aufgereiht der Band Geleitschutz geben. Oder um einen weiteren plakativen Songtitel zu bemühen: "Cold Fascination" macht sich auf dem Album breit.

Es wäre aber zu billig, Vaniish als reine Epigonen abzustempeln. Tecon und Co. versuchen erst gar nicht, einen Stil zu imitieren. Sie leben ihn einfach. Auch wenn sie damit 35 Jahre zu spät sind. Selbst das schwarz-weiße, klar umrissene Cover verweist auf ihr Faible für sinistre Atmosphäre. Das abschließende, deutlich am Shoegaze orientierte "La foi au fil de l'eau" kommt dann aber doch dem berühmten Lichtstrahl am Ende des Tunnels gleich: Nach all der Distanziertheit nimmt dieses Stück den Hörer liebevoll in den Arm und streicht ihm über den Kopf. Schließlich gibt es immer die Hoffnung - und diese stirbt auch bei Vaniish nicht.

Apropos Shoegaze: Das ist auch so ein Kind des Post-Punk. Die depressiven Gitarrenakkorde von einst werden mit Hall, Fuzz und jeder Menge Elektronik und Effekten angereichert. Am Ende sieht sich der Hörer vor turmhohen Klangwänden, die ihn im besten Fall vor Schönheit erstarren lassen. Seasurfer, überraschenderweise nicht aus dem Shoegaze-Mutterland England stammend, sondern ein heimisches Gewächs aus der Arm-aber-sexy-Metropole Berlin, bedienen genau diese Emotionen. Würden sie in ihrem Titelsong nicht einen in Deutsch gesprochenen, etwas wirren Text mit viel Echo-Effekt verstecken, man würde Seasurfer ohne mit der Wimper zu zucken als Teil der britischen "Schuhgucker" akzeptieren. Das zeigt nur, wie gut die Gruppe um Sängerin Dorian E. und Songschreiber Dirk diese Musik verinnerlicht hat. So schön verwischt wie das Cover-Artwork sind praktisch auch alle darauf enthaltenen Songs. Shoegaze der alten Schule also.

Allerdings dominiert bei Seasurfer immer das melodische Moment. "Dreampunk" nennt das Quartett ihren Sound - und verweist damit auf eine unnachahmliche Mixtur aus ätherischen Harmonien einerseits und kraftvollen Saitenspielen andererseits. Es ist vor allem die verträumte Stimme der Sängerin – eine geglückte Mischung aus Siouxsie Sioux, Björk und Austra-Frontfrau Katie Stelmanis – die sich nahtlos in die teilweise quietschigen Klangteppiche einfügt. Sie macht "Dive In" zu einem echten Hörerlebnis - und Seasurfer zu einer Gruppe mit deutlichem Wiedererkennungswert.

Das Erstlingswerk der Band verharrt im Vergleich zu anderen Kollegen aus dem gleichen Genre nicht in Katatonie. Es bewegt sich, es wabert, es drückt, es will zerspringen. Stücke wie "Stay" oder auch "Cloudjumping" beherbergen den augenscheinlichen Bewegungsdrang nicht nur im Titel, sondern auch in den immer waghalsigeren Klangkonstruktionen.

"Dive In", das ist auch das für bare Münze zu nehmende Credo dieser Band. Ihre Musik ist ein brausendes Meer, in dessen Weiten der Hörer ohne zu Zögern eintauchen möchte, während es textlich äußerst phantasievoll und märchenhaft zugeht. Fast schon kitschig endet der musikalisch dunkelbunte Reigen mit "Fireworks": Ein sieben Minuten langes Hängematten-Stück, ein melancholisches Feel-Good-Lied (ja, so was gibt es!), das von großer Freiheit unter klarem Himmel zu künden scheint. Am Ende explodieren China-Böller und steigen Raketen in die Lüfte. Sie sind das Pendant zum klanglichen Feuerwerk, das Seasurfer auf ihrem Debüt abfackeln.

|| TEXT: DANIEL DRESSLER // DATUM: 27.06.2014||



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BILDQUELLE VANIISH © METROPOLIS RECORDS; SEASURFER © MEMBRAN.


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