7/17: THE BIRTHDAY MASSACRE, LYDIA LUNCH & CYPRESS GROVE, ROME, KRAFTKLUB, DAILY PLANET - SICHERE BÄNKE
Es gehört schon mehr als nur ein bisschen Glück dazu, über Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte, als Musiker ständig präsent zu sein. Dies schafft nur, wer seiner Kunst einen eigenen Stempel aufdrückt und diese mit gleichbleibend hohem Niveau glaubhaft vorbringt.
Im Falle von The Birthday Massacre war es der erfrischende Mix aus breitwandigem Gitarrenrock und verspielt-neonfarbenen Synthesizer-Einsprengsel, der in Verbindung mit quirlig-frechen Frontfrau Chibi besonders die modisch bewussten, vom japanischen Visual-Kei-Style beeinflussten Gruftie-Backfische abholte. Ihre Burton'sche Alice-Im-Wunderland-Attitüde behalten sie denn erwartungsgemäß auch im 16. Jahr ihrer Existenz bei. Schließlich funktioniert diese so gut, dass "Under Your Spell", das siebte Album der kanadischen Formation, durch eine Crowdfunding-Kampagne realisiert werden konnte. Ein weiterer Beweis für die treue Fanschar der Gruppe. Diese bedankt sich mit einem soliden Album, das bereits beim Opener "One" wieder alle Zutaten eines TBM-Songs durchscheinen lässt: dezente Keyboard-Tupfer, die von einem einfachen, aber stringenten Rhythmus und massigen Gitarrenriffs abgelöst wird. Dazu gibt die Sängerin ihre Liebes- und Herzschmerzlyrik zum Besten. Interessant wird es bei Stücken wie "Counterpane" und "Unkind", die den Fokus deutlich auf das rockige Moment legen. Hier kämpft schwermetallische Attitüde gegen ein bombastisches Popverständnis, was den besonderen Reiz und auch die Dynamik der beiden Songs steigert. Ansonsten schaffen es The Birthday Massacre, wieder genauso zu klingen, wie man es von ihnen erwartet, ohne aber als peinliches Selbstduplikat zu enden. Dafür sind die elf Nummern einfach zu gut arrangiert, als dass sie nicht das typisch violette Flair der Gruppe verbreiten. Und sie halten immer noch einige Überraschungen parat. So wechselt Chibi bei "No Tomorrow" zwischen einer anschmiegsamen Strophe, die in der Melodieführung an Duran Duran erinnert, und einem tiefen, krächzenden Organ im Refrain, in dem sie wie eine Bessesene klingt, an der gerade ein Exorzismus verübt wird. Getreu dem Albumtitel lässt man sich also auch beim siebten Mal vom Zauber dieser Band bannen.
Eine Magie von ganz spezieller Machart besitzt hingegen Lydia Lunch, die Grande Dame der kurzen, aber heftigen No-Wave-Bewegung des New York der Endsiebziger Jahre. Ihre ungeschliffene, bisweilen rotzige Art macht die Frau zum Inbegriff des weiblichen Selbstverständnisses in der Kunst. Keine Schönmalerei, keine unschuldige Barbie-Mine ziert ihr Gesicht. Dafür krächzt, ächzt und stöhnt sie sich wie ein weiblicher Tom Waits auf ihrem neuesten Werk "Under The Covers", das sie zusammen mit dem Blues-Musiker Cypress Grove eingespielt hat, durch diverse Fremdkompositionen. Ein Faible für eigenwillige Neuinterpretationen besaß die 58-jährige schon immer. Ihre offensive und auch schamlose Aneignung des Materials anderer Kollegen stieß nicht immer auf Begeisterung. Doch besser ist es, als Künstlerin streitbar zu bleiben, als sich als eigenschaftsloses Darling für Jedermann anzubiedern. Ihr kaputter Südstaaten-Rock und Garagen-Blues bringt dafür solche Gassenhauer wie Bon Jovis "Blaze Of Glory" oder auch Steely Dans "Do It Again" auf ein anderes, wesentlich subversiveres Level. "Under The Covers" setzt da an, wo selbst die Sperrstunde in den Bars vorbeigezogen ist und die letzten ange- und betrunkenen Gäste sich auf ihren Weg nach Hause machen. Da wird der minimale Country-Hit "Ode To Billie Joe" von Bobbie Gentry durch Feedbacks und atonale Gitarrenläufe zu jenem Moritat, das die Nummer eigentlich schon immer war. Und die erotisch aufgeladene Blues-Stimmung bei The Doors' "The Spy" mutiert unter Lunchs Organ zu einer düsteren Vamp-Nummer par excellence. Die dritte Zusammenarbeit mit Cypress Grove ist erwartungsgemäß ein Beweis dafür, was Musik zu leisten vermag, wenn man sich von sämtlichen Konventionen befreit.
Für die Neo-Folker von Rome indes galt schon immer das Prinzip der totalen künstlerischen Schrankenlosigkeit. Von Mini-Alben wie "Coriolan" bis hin zum drei CDs umfassenden Konzeptepos "Die Æsthetik der Herrschaftsfreiheit" manövriert Jérôme Reuter sein Projekt, dank einer intelligenten Überkreuzstellung postindustrieller Klänge mit Folk-Noir-Komponenten, sicher an den Untiefen seines Genres vorbei; selbst introvertiertere und von Fans kritisch beäugte Werke wie "Hell Money" stehen locker über eventuelle Qualitätsfragen. Für die aktuelle Veröffentlichung stand aber dieses Mal nicht die Band, sondern der Ort im Vordergrund: die hochheiligen Hansa-Studios in Berlin. Depeche Mode, Iggy Pop, David Bowie, Nick Cave... die Liste der Besucher dieser Aufnahmeräume erzeugt beim bloßen lesen Gänsehaut. Und wie erst muss man sich als Musiker fühlen, wenn es einem ermöglicht wird, dort Songs aufzunehmen. Von dieser Spannung lebt "Hansa Studios Session", das laut Booklet tatsächlich in einem Rutsch aufgenommen und ohne große Nachbearbeitung gemastert wurde. Die Energie eines Live-Albums in seiner puresten Form solle der Hörer erfahren. Am Ende stehen acht Songs mit einer Spielzeit von etwas mehr als 35 Minuten zu Buche, darunter solche Klassiker wie "Der Brandtaucher", "Querkraft" oder "A Legacy Of Unrest". Mit dem Unterschied jedoch, dass es die Gruppe in deutlich handfestere Goth-Rock Gefilde verschlägt. Besonders "Mine" überrascht mit einer regelrechten Energieexplosion, die auf Romes regulären Alben nur selten zu finden ist. "Hansa Studios Session" ist ein Mini-Best-Of der deliziösesten Sorte, was bei einer Band wie Rome allerdings auch nicht anders zu erwarten war. Bleibt zu hoffen, dass dieser ungebändigte Spirit stärker in die kommenden Alben einfließen wird.
Unbändig beschreibt übrigens ganz gut die Kreativität der Chemnitzer Jungs von Kraftklub. Seit ihrem ersten Indie-Hit "Ich will nicht nach Berlin" vor knapp sechs Jahren positioniert sich die Gruppe um die Geschwister Felix und Till Brummer irgendwo zwischen kommerziellem Erfolg und subversiv-anarchistischer Attitüde. Anders gesagt: die "Band mit dem K" liefert nicht nur dröge Seelenmalerei ab, wie es die Deutsch-Pop-Barden hierzulande bis zum Auslösen des Würgereflexes tun, sondern erzählen kleine, pointierte Geschichten, hinter denen oftmals eine ganze Assoziationskette in Gang gesetzt wird und die einen zum Nachdenken animiert, ohne aber belehrend zu wirken. Das kommt nicht von ungefähr, waren doch Felix und Tills Eltern in den 1980er Jahren Mitglied bei der Avantgarde-Pop-Formation AG.Geige. Ohne Zweifel haben sie ihren Nachkommen das passende Rüstzeug, bestehend aus musikalischem Talent und kritischer Weltbetrachtung, mit auf den Weg gegeben. "Keine Nacht Für Niemand", Album Nummer drei der Kraftklubber, verdichtet nun ihre Vorstellung von politischer Haltung und feinziseliertem Humor, der sogar noch für Empörung sorgen kann. Bereits ihre vorab ins Rennen geschickte Single "Dein Lied" erhitzte einige Gemüter (befeuert übrigens durch ein Video mit ebenfalls provokanter Bildästhetik). Musikalisch bildet dieser komplett ausorchestrierte Song übrigens die absolute Ausnahme; ansonsten gehen Kraftklub wieder den gewohnten Indie-Rock-Weg mit Rap-Lyrik, dieses Mal aber mit noch mehr Bezug auf ihre klanglichen Vorbilder, allen voran Die Ärzte. Viele Stilmittel erinnern an jene der Berliner Spaß-Rocker: überpathetischen Chorgesänge in "Band mit dem K", gewollt schnulzige Liebeslyrik in "Am Ende" - in "Sklave" zitieren sie gar die Vorbilder eins zu eins, setzen aber die Wörter in einen anderen Kontext über die inhumane Leistungsgesellschaft. Dazwischen zeigen sie in "Fenster" klare Kante gegen deutschtümelnde Pegida-Sympathisanten sowie Ewiggestrige im Geiste und besingen in "Chemie Chemie Ya" das drogeninduzierte Kaputtsein auf tragikomische Weise. Auch beim dritten Album haben Kraftklub etwas zu sagen. Man wünscht sich, dass ihnen noch mehr zuhören würden.
Konstanz bei Daily Planet zu konstatieren fällt tatsächlich schwer. Denn die zuckersüßen Melodien der schwedischen Synthie-Popper wurden bereits anno 1996 mit dem Erstling "The Tide" vorgestellt und versprachen ein Revival des naiven Elektro-Pop-Song, wie es ein Vince Clarke mit seinen Projekten Yazoo (und ultrakurzzeitig mit The Assembly) vorgelebt hat. Es sollten aber fast 20 Jahre ins skandinavische Land ziehen, bis Jarmo Ollila und Johan Baeckström wieder vor Mikro und Maschinen standen. Ihren klaren Klangvorstellungen hat das nicht geschadet. Nach ihrem Nachfolgealbum "Two" (2014) scheinen sich die beiden ihrer Sache sogar noch sicherer zu sein. Ihr neuestes Album "Play Rewind Repeat" ist eine einzig jubilierende Reminiszenz and das goldene Pop-Jahrzehnt. Selbst das ausgestorbene Stilmittel des Songausblendens erlebt in "Set Me Free" und dem wunderbaren "Drown" seine Wiedergeburt. Besonders Olila, der unter anderem als Mr. Jones Machine sein Faible für vollelektronische Tonerzeugung weiter kultivierte, hat sich offensichtlich von sämtlichen Vorbildern gelöst. Und dennoch war die Freude sicher nicht gering, als Mac Austin sich dazu bereit erklärte, bei "Heaven Opened" als Gastsänger zu fungieren. Immerhin ist der Engländer, der stimmlich irgendwo zwischen Marian Gold von Alphaville und Morten Harket von A-Ha liegt, mit seiner Band White Door selbst Teil der prosperierenden Synthie-Pop-Bewegung der frühen 80er und eindeutige Inspirationsquelle für Daily Planet gewesen. Dennoch kommt "Play Rewind Repeat" als höchst eigenständiges Album daher, das voller traumhafter Melodien steckt, die nur noch von der ultraklaren Stimme Ollilas übertroffen werden. Die Zeichen stehen sehr gut, dass Daily Planet zukünftig eine feste Konstante in der Synthie-Pop-Landschaft sein wird. Denn wenn so eine Perfektion in Serie geht, ist das für dieses Genre nur begrüßenswert.
||TEXT: DANIEL DRESSLER| DATUM: 17.07.17 | KONTAKT| WEITER: IM GESPRÄCH MIT MATHIAS WAGNER (KURATOR DES ALBERTINUMS IN DRESDEN)>
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Webseiten:
www.thebirthdaymassacre.com
lydialunch.bandcamp.com
www.facebook.de/romeproject
www.kraftklub.to
www.facebook.de/dailyplanetband
Cover © Metropolis Records/Soulfood (The Birthday Massacre), Rustblade Records/Broken Silence (Lydia Lunch), Trisol/Soulfood (Rome), Vertigo Berlin/Universal Music (Kraftklub), Progress Production/Broken Silence (Daily Planet)
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