GROSSSTADTGEFLÜSTER "DAS ÜBER-ICKE" VS. PSYCHO WEAZEL "MAINS D'ARGILES": DA TANZT DER BÄR - UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR

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GROSSSTADTGEFLÜSTER "DAS ÜBER-ICKE" VS. PSYCHO WEAZEL "MAINS D'ARGILES": DA TANZT DER BÄR

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Selten passiert es, dass eine Band so viele verschiedene Geschmäcker auf sich vereinen kann. Als Grossstadtgeflüster 2003 ihr Debüt "Muss laut sein" auf die Menschheit losließen, haben sich Fans aus der Deutsch-Rap-Szene ebenso für die schnodderige Art der Frontfrau begeistern können wie auch Gruftis und Electroheads, die vor allem das kantige Anti-Stück "Ich muss gar nix" als amtliche Tanznummer anerkannten. Auch auf den Konzerten der Band gab es vom Hipster bis zum Irokesenträger alles zu begutachten, was sich gerne die Plakette "alternativ" ans Revers heftet.

So unterschiedlich die Ecken auch sind, aus denen die Menschen zu Grossstadtgeflüster pilgern, eint sie eine Sache. Mit Spaß und rotzfrecher Attitüde einfach mal der Gesellschaft den Stinkefinger entgegenrecken. Ein Stück wie "Fickt-Euch-Allee" hat es auf diese Weise in die Herzen nicht nur der Berliner, sondern der ganzen Republik geschafft. Mit der letzten Langrille "Trips & Ticks", die Platz 15 der Albumcharts erklomm, wurde deutlich, dass die anarchische Spaßkapelle um die energiegeladene Berliner Schnauze Jen Bender keine regionale Größe mehr ist.

Mit "Das Über-Icke" könnte die Popularität nun um ein Vielfaches wachsen. Das liegt vor allem im Song "Ich kündige" begründet, der bereits im vergangenen Jahr ausgekoppelt worden ist und sogar als heißer Kandidat für den Vorentscheid zum diesjährigen Eurovision Song Contest gehandelt wurde. Eine ruppige Nummer mit einem Beat aus dem Discounter, dazu eine angriffslustige Hauptstädterin am Mikro, die mit dieser Nummer aus dem Herzen jedes Malochers spricht. Grossstadtgeflüster hätte Deutschland bei diesem Event sicherlich würdiger vertreten als die Knallchargen davor. Aber so sehr auch die Gerüchteküche brodelte; Es wird nicht dazu kommen. Ganz einfach, weil das Dreiergespann das Lied gar nicht für den Contest angemeldet haben.

Doch im Netz ist das Video zu "Ich kündige" bereits viral gegangen und selbst Menschen von außerhalb Deutschlands wünschen sich Grossstadtgeflüster als ESC-Teilnehmer. Das dürfte die Band sicherlich mit einer gewissen Genugtuung registriert haben. Doch getreu Udo Lindenbergs Motto "Ich mach' mein Ding", schert sich das Trio nicht um Fame, sondern um die richtige Haltung und witzige Texte mit Aussagekraft.

Auf ihrem siebten Album bleibt Jen ihrer Richtung treu und baut in die fundamental elektronischen Nummern gerne auch mal einen überraschenden Break ein. Da wechselt beispielsweise der Minimal-Techno-Song "Icke" gegen Ende in einen Leierkasten-Chanson mit einem Hauch von Dreigroschenoperflair. In diesem Moment zeigt die 1,59 Meter große Sängerin, wie viel Kraft in ihrer Stimme steckt.

Ohnehin überraschen Grossstadtgeflüster nicht nur mit ihrer handwerklichen Finesse, sondern auch mit ihren ausnahmslos guten Beobachtungen und Stories. Jen schafft es dabei, moderne Frauenbilder ohne den erhobenen Zeigefinger zu etablieren. So verliebt sich das lyrische Icke in "Huckepack" in einen Mann, der sie nach Hause trägt, weil sie auf einer Party zu tief ins Glas geschaut hat. Sämtliche Klischees werden hier locker über Bord geworfen: Frau ist in diesem Fall nicht das zierliche Beistelltischchen, das züchtig am Sprudelwasser nippt, sondern eine Feierbiest, das sich auch mal die Lichter ausschießt. Zudem sind solche Zeilen wie "kann mich nicht bei dir bedanken, denn ich scheiter' an den Konsonanten" feingeschliffener Wortwitz, den die Sängerin auf "Das Über-Icke" über Gebühr anwendet und so den Songs auch immer eine gewisse Leichtigkeit verleiht.

Beim genaueren Hinhören wird schnell deutlich, dass sich die Truppe, bei aller Liebe zum Kalauer, tief philosophosche Gedanken macht. "Verschenktes Potenzial" ist ein musikalisches "carpe diem", das im Finale an die fatalistischen Klänge eines Chris Corner alias IAMX erinnert, "Matrjoschka" mäht im Garten der geflügelten Worte alles nieder, während Pizzicato-Streicher uns Hochkultur vorgaukelt. Diese wird später in "Ketchup" aber ordentlich gecrasht. ("Ach, und die Band heißt "Streichquartett"? Das ist ein komischer Name").

Grossstadtgeflüster machen Party, bis die Schwarte kracht, verlieren aber auch nicht den Blick für die wohlgeformten Zeilen, die einen ungezügelten Individualismus propagieren und gegen sämtliche Spießigkeiten angehen. Für all diejenigen, denen wie in "Leben am Limit" schon das Adrenalin in die Blutbahn schießt, weil sie verwegen "morgens Elmex, abends Aronal" für ihre Beißerchen anwenden, ist "Das Über-Icke" vielleicht eine Spur zu crazy. Alle anderen werden es lieben bis zur letzten Note.

Währen es bei Grossstadtgeflüster um die wilde Party mit ordentlicher Druckbetankung geht, sind bei Psycho Weazel die Dinge etwas anders gelagert. Ihr auf dem Berliner Label Iptamenos Discos veröffentlichte EP "Mains D'Argile" schielt zwar auch auf die Tanzflure, wählt aber das Florett anstatt den Vorschlaghammer. Die beiden aus Neuchâtel stammenden Musiker verfolgen dabei einen ganzheitlichen Ansatz, der die Clubmusik teilweise zu ihren Wurzeln zurückführt und sie voller dunkler Eleganz strahlen lässt.

Solch eine Musik wird gemeinhin als Dark Disco und beschreibt ziemlich genau, was die Songs charakterisiert: klassische Beats und Sounds, die an die Hochzeit der Diskomanie in den späten 70ern erinnert, aber auch Einflüsse aus EBM, Italo Disco und New Romantic in sich vereint, sodass die Tracks so mysteriös wirken wie ein Fremder, der nächtens im Trenchcoat mit hochgezogenem Kragen durch schwach beleuchtete Straßen mäandert.

Eine Hochburg dieser immer größer werdenden Bewegung ist natürlich Berlin. Dank Iptamenos Discos werden die Bande zwischen dunkler Elektronik und hedonistischem Disco-Sound wieder stärker miteinander verknüpft. Das Label, das von dem deutsch-griechischen Act Local Suicide geführt wird, hat mit Psycho Weazel die nächsten musikalischen Hochkaräter unter ihre Fittiche genommen. "Mains D'Argile" ist in der langen Version überdies ein Statement gegen die zunehmende zeitliche Komprimierung des Popsongs an sich. Psycho Weazel lassen erst einmal gemütlich eine mit Filter bearbeitete High-Hat erklingen, ehe sich langsam das Thema in den Vordergrund schiebt. Erst ab Minute 1:53 setzen die punpenden Beats ein und ein verwaschener Gesang taucht aus den Tiefen hervor. Solch lange Vorläufe findet man heutzutage nur noch selten. Dabei machen sie einen Großteil der Spannung eines Tracks aus.

Das Lied ist das Ergebnis der Zusammenarbeit mit Curses, einem Wahlberliner, der zuletzt die beachtliche Drei-CD-Kompilation "Next Wave Acid Punx Deux" veröffentlicht hat. Für den zweiten Song "Matra Murena" wurden Local Suicide selbst hinzugezogen. Das Stück ist im Motor Solo Mix eine nicht unspannende Mischung aus Italo Disco und 90er-Jahre-Trancesounds. Im Radio Edit hat man sich zudem den kleinen Spaß erlaubt, das markante Drumprogramming von Depeche Modes "People Are People" nachzubauen und als Auftakt exponiert voranzustellen. Ein Hinweis darauf, mit welchen Idolen Psycho Weazel, aber auch die anderen an der EP Beteiligten, groß geworden sind.

Rafael Cerato mixt den Song, der übrigens fast schon zu schade als "B-Seite" ist und eine eigene Veröffentlichung verdient hat (was aber auch zeigt, wieviel Qualität bei Psycho Weazel vorhanden ist), ein bisschen schneller ab und baut einige fette Sounds ein, um das Trance-Moment deutlicher hervorzuheben. Das alles macht in Summe eine spannende EP, welche die Erwartungen an das Album deutlich nach oben schraubt.

Fazit: So könnte ein perfekter Ausgehabend aussehen! Zunächst kollektives Ausrasten mit Grossstadtgeflüster, um in tiefer Nacht in irgendeinem Club zu den pulsierenden Beats von Psycho Weazel selbstvergessen und dezent dekadent tanzen, bis die ersten Sonnenstrahlen den neuen Tag ankündigen. In Berlin ist so etwas möglich, denn wie sangen bereits Seeed? "Woanders gibt's die Sperrstunde, bei uns die Müllabfuhr".

||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 06.02.24 | KONTAKT | WEITER: LISTE - SONGS MIT JAHRESZAHLEN>

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