PUBLIC SPEAKING "AN APPLE LODGED IN MY BACK" VS. ALICE DOES COMPUTERMUSIC "SHOEGAZE 5G": DAS P IN AVANTGARDE STEHT FÜR POP - UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR

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PUBLIC SPEAKING "AN APPLE LODGED IN MY BACK" VS. ALICE DOES COMPUTERMUSIC "SHOEGAZE 5G": DAS P IN AVANTGARDE STEHT FÜR POP

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Wenn Veränderungen in unser Leben eintreten, macht das natürlich etwas mit uns. Alte Weggefährten wenden sich von einem ab oder scheiden dahin, die erste große Liebe trennt sich nach Jahren und hinterlässt eine klaffende Lücke. Manchmal sind es aber auch geografische Veränderungen, die ein inneres Beben verursachen. Beim Amerikaner Jason Harris war es das Museum Of Modern Art in New York, landläufig als MOMA bekannt. In diesem war er über mehr als zehn Jahre angestellt. 2019 erfolgte ein größerer Umbau, der das Gesicht des Museums deutlich veränderte (unter anderem wurde das neu errichtete Hochhaus 53W53, früher "Tower Verre" zur erweiterten Ausstellungsfläche genutzt).

Für Harris war dieser Umbau seiner vertrauten Umgebung, die er so gut kannte wie seine Westentasche, ein einschneidendes Erlebnis, das er mit seinem Project Public Speaking in seinem akteuellen Album "An Apple Lodged In My Back" verarbeitet. Allerdings nicht wie beim klassischen Klavierzyklus "Bilder einer Ausstellung" von Modest Mussorgsky, wo einfach nur Kunstwerke vertont wurden, sondern als Denkanstoß über die Frage nach Wandel im Allgemeinen. Schnell ist Harris auch bei seinen eigenen persönlichen Themen, bei der Renovierung seines Ichs. Es geht um Identitäten; am Ende wird die Genderdebatte aufgemacht. "What A Proud Boy" oder auch "My Enemy Is Dead" behandeln diese Frage, die sich furchtlos gegen bestehende Moralvorstellungen stellt.

Denn auch diese befinden sich im Wandel. Alte Werte werden eingerissen und durch neue ersetzt. Public Speaking, ganz amerikanisch konditioniert, beachtet dabei das eigene Land und analysiert das verkrampfte Festhalten konservativer Anhänger an ihren Werten. Sie wollen nicht, dass die Abrissbirne angesetzt wird und die alten Moralvorstellungen zusammenfallen. Doch auch hier findet Wandel statt. "An Apple Lodged In My Back" handelt über das ganze Album und auf unterschiedlichen Ebenen davon.

Das MOMA findet dann aber doch Einzug in das Werk, und das auf sehr gelungene Art und Weise. Public Speaking haben die Arbeitsgeräusche während der Renovierung aufgenommen und sie an verschiedenen Stellen eingebaut. Diese sperrigen perkussiven Elemente sind ein perfekter Kontrapunkt zum warmen Crooning von Jason Harris, der in seiner stimmlichen Eleganz zwischen David Sylvian und Jay-Jay Johanson angesiedelt werden kann. Zudem tauchen bei Public Speaking immer wieder Momente großer Pop-Brillanz auf. "Right Angle Wrong Shape" hätte man sich bis zur Hälfte als Song auf dem letzten Album von Depeche Mode gewünscht. Danach springt die Elektroniknummer wie selbstverständlich in einen Swing um. Selbst solche unerwarteten Stilwechsel innerhalb eines Liedes funktionieren, weil schon mit den ersten Tönen des Albums klar wird: Es geht um Gefühle - und da haben Schubladen einfach keinen Platz.

"An Apple..." ist eine kleine Überraschung, weil es die Linie zwischen Eingängigkeit und Anspruch mühelos beschreitet und ein eingängiges wie anspruchsvolles Hörvergnügen bereitet. Public Speaking zählt zweifellos zu den Entdeckungen dieses Jahres.

Mit Alice Gerlach verhält es sich ähnlich. Ebenfalls New Yorkerin, spielt sie mit den verschiedenen Möglichkeiten, die ihr Pop und Avantgarde bereithalten. Und von Kategorisierungen hält auch sie nicht viel. "Shoegaze 5G" heißt ihre neue Platte zwar, aber wer glaubt, verhallte Gitarren und entrückte Gesänge zu hören, wird da schnell enttäuscht werden. Auch dass sie sich den Projektnamen Alice Does Computermusic erdacht hat, ist auch nur die halbe Wahrheit. Natürlich besitzen ihre Nummern ganz viel Synthesizer, Rhythmusprogramme und was noch alles. Doch ihr Hauptinstrument ist das Cello, mit dem sie gerne experimentiert.

Alice macht Pop. Das sagt sie selber. Am Ende steht jedoch ein durchaus vertrackter Song, der durch ihre leicht rauchige Stimme noch stärker der Wirklichkeit entrückt wird. Wie kommt das? Vielleicht hilft es, das Bild eines Malers zu bemühen. Dieser entwirft in ein Gemälde zunächst in klaren Linien und Formen. Danach fängt er an, Flächen zu verwischen, Striche werden mit Wasser aufgeweicht, Fluchtpunkte unkenntlich gemacht. Am Ende scheint noch das alte Bild durch, wirkt aber durch die eingestreuten Effekte komplett anders. So könnte man "Shoegaze 5G" vergleichen.

Konkret auf das Hörerlebnis bezogen bedeutet das: In den Songs hören wir die großen Mainstream-Nummern und fühlen das geradezu Stadionartige ihrer Lieder. "Listens To Girl Machine Once" ist so ein Beispiel: Der vor sich hinrollender Breakbeat wird von einem Quasi-Rap-Gesang begleitet und besitzt viel aktuelle "Vibes". Wäre da aber nicht der angestaubte Trance-Sound und das viel zu schnelle Ende (das Lied wird nach eineinhalb Minuten ausgeblendet), die aus der Nummer nur ein Pop-Fragment macht. Ausgearbeitet werden diese Gedanken unter anderem beim sensationellen "Coiled", das erst einmal ungehindert den Pop-Pfad beschreitet, ehe in der zweiten Hälfte Gerlachs Experimentierfreude durchschlägt und Störgeräusche sowie vemeintlich digitale Aufnahmefehler in die Komposition mit einfließen.

Bei "Oil Spill Halo" fühlt man sich durch den Geigenloop und den pluckernden Beat an eine Komposition von Ernst Horn (Deine Lakaien) erinnert. Aber nur bis zum Punkt, wenn die Synthesizer-Arpeggi einsetzen. Sofort schlägt das Gothic-Momentum um und daraus erwächst eine Trance-Nummer. Ähnlich funktioniert "Widow's Peak", das dem Cello zunächst die gesamte Fläche überlässt, ehe die Töne zu  einem Trance-Stakkato modifiziert werden und ein gradliniger Beat unterlegt wird.

Auch hier mutet die Nummer eher wie eine Studie an, die nach Minute 1:36 hart vom abschließenden "Thread" unterbrochen wird. So verleitet Alice Does Computermusic immer wieder dazu, sich in ein gerade eröffnetes Thema reinzuhören und es kennenzulernen, um dann urplötzlich einen musikalischen Haken zu schlagen und so einem Stück ein ganz neues Gesicht zu verleihen. Oder auch nur den Anschein eines neuen Antlitzes.

Hoher Anspruch ist das Maß, Eingängigkeit die Triebfeder. Public Speaking und Alice Does Computermusic haben Songs geschaffen, in der Pop als Genre so etwas wie einen Camouflageauftritt hat. Es dominieren avantgardistische Elemente, unerwartete Stilbruche und Temposchwünge die ein stupendes Durchhören verhindern. Und das ist auch gut so.


||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 29.09.23 |
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COVER © WHITED SEPULCHRE RECORDS (PUBLIC SPEAKING), JOLT MUSIC (ALICE DOES COMPUTERMUSIC)

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