MESH VS. ASSEMBLAGE 23: ZWEI MAL NUMMER SICHER - UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR

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MESH VS. ASSEMBLAGE 23: ZWEI MAL NUMMER SICHER

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Erfolg ist super. Er bedeutet angenehme Genugtuung für das Geleistete. Doch wie der Volksmund auch richtig bemerkt: Oben wird die Luft dünner. Man muss sich stets neu beweisen, um das einmal erreichte Level zu halten. Gleichzeitig wächst die Anzahl derer, die nur auf den Moment der Schwäche warten, um die Arbeit mit Wonne niederzumachen und am Thron zu rütteln. Das ist in der Berufswelt nicht anders wie in der Kunst.

In solch einer Olymp-Position befindet sich Mesh. Wie bereits zu Beginn ihrer Karriere ein deutscher DJ richtig bemerkte, würde man in naher Zukunft die Band nicht mehr in die Nähe von Depeche Mode verorten, sondern andere Bands dafür kritisieren, dass sie wie Mesh klingen. Er sollte recht behalten: Nach mehr als 20 Jahren kreativen Outputs steht das Duo Mark Hockings und Richard Silverthorn in der glücklichen Lage, einen derart unverkennbaren Klang geschaffen zu haben, der einerseits genügend Ecken und Kanten besitzt, um als "independent" geadelt zu werden, andererseits aber nie einen Hehl aus der Liebe zum Pop macht. Das beste aus zwei Welten sozusagen.

Naturgemäß wurden die weniger wohlwollenden Stimmen in den letzten Jahren lauter. Man suchte immer wieder nach der vermeintlichen Achillesferse, setzte beispielsweise große Fragezeichen nach dem Weggang von Mitbegründer Neil Taylor anno 2006. Doch Mesh ließ sich davon nicht beirren und machte weiter. Nach dem grandiosen "Automation, Baby" folgt nun mit "Looking Skyward" Album nummer acht.


Das Englische besitzt ein wunderbares Wort: haunting. Wenn der Brite von "haunting melodies" spricht, kann das entweder unserem deutschen "Ohrwurm" entsprechen, gleichzeitig aber auch molldurchtränkte, schwermütige Klänge bezeichnen. Genau auf der Schnittstelle zwischen diesen beiden Definitionen bewegen sich Mesh-Songs. Sie sind eingängig und eindringlich zugleich, wiegen dich in angenehmer Melancholie und pathetischem Impressionismus. Schon Song Nummer zwei, namentlich "Tactile", liefert genau das ab: Über einen sanft anschiebenden Rhythmus entfalten sich die Keyboard-Flächen wie ein breites Tuch, auf dem Mark seine Gedanken über gescheiterte Beziehungen und Vertrauensbrüche mit seiner ihm eigenen Eindringlichkeit vorträgt. Spätestens hier ist die Band aus Bristol über jeden Zweifel erhaben, wenn sie es nicht schon gleich beim ersten Ton des Eröffnungsstück "My Protector" sind.

Wie das Kind auf dem Albumcover, das aus einem Speicher auf dem Dach aus einer kleinen Luke den Himmel beobachtet, blicken auch Mesh auf das Firmament der Emotionen. Unterstützt werden sie dabei von ihrem fast untrüglichen Gespür für gute Melodien und einprägsame Lieder. Ob es nun tanzbar wie bei "The Last One Standing" oder energetisch-getragen wie bei "The Traps We Made" ist: Das Duo aus Bristol findet immer wieder die richtigen Sounds und Wörter, die eine so unnachahmliche und für sich einnehmende Symbiose bilden, das es eigentlich unmöglich ist, ihnen zu widerstehen - selbst wenn sie sich in "Once Surrounded" ungeniert beim schleppenden Dreiviertel-Rhythmus von Depeche Modes "I Feel You" bedienen.


Besonders "Before This World Ends" wird bei der Fangemeinde, die sich längst nicht mehr nur auf Freunde angedunkelter Elektronik beschränkt, Verzückung und Sehnsüchte wecken. Dieses Stück steht exemplarisch für die gesamte musikalische Vision, die Mark und Richard zu transportieren versuchen. Ihre Traurigkeit ist nie hoffnugslos, ihre Wut nicht blind. In jeder Note liegt auch ein Stück Zuversicht, weswegen Mesh eine größere Massentauglichkeit als andere Gruppen besitzen.

Für Assemblage 23 sollte im Grunde das selbe gelten. Leider hat es aber Tom Shear, der Mann hinter diesem Synthie-Pop-Projekt, nie zu diesem Ruf gebracht. Dennoch gehören seine Alben für die EBM- und Synthie-Pop-Szene immer noch zum allgemeingüligen Kanon. Dass es nie so richtig mit der ganz großen Karriere geklappt hat, liegt vielleicht an dem unglaublichen Kickstart, den der Amerikaner anno 2001 hingelegt hat. Mit "Failure", seinem zweiten Alben, schuf er ein zeitloses Meisterwerk, das mit "Disappoint", das er seinem Vater, der Suizid beging, gewidmet hatte, ein herzergreifendes wie tanzbares Stück für die Ewigkeit herausbrachte.

Zwar waren auch die nachfolgenden Werke, allen voran "Defiance" durchaus immer noch von höchster Qualität, aber spätestens bei "Compass" schienen die Lieder eher zu eindimensionalen Reißbrett-Ideen zu verkommen, wenngleich sie eine gleichbleibend ho
he Produktionsqualität aufwiesen. Nach einer vierjährigen Pause scheinen beim Mann aus Seattle  die Batterien allerdings ordentlich aufgeladen zu sein. "Endure" jedenfalls nordet das Projekt wieder ein und scheint einen weiteren Schritt in der zuletzt stagnierenden Entwicklung von A23 zu markieren.

Das superbe Albumcover mit einem schmerzvoll schreienden Sänger im verfremdeten Profil verweist bereits auf eine neue Qualität der Stücke. Denn im Vergleich zu den anderen Assemblage 23-Veröffentlichungen
zierte Toms Antlitz nie die Plattenhüllen. Ein Indiz also, dass er als Person und Künstler noch mehr in das Zentrum seiner Stücke rückt?

Zumindest scheint er sich von alten Vorgaben, die er sich vielleicht selber auferlegt hat, zu lösen. So startet das Album mit dem Titelstück, einem majestätisch-kühlen Drei-Minuten-
Instrumental mit der Grandezza eines Eisbergs auf Hoher See. Auch bei "Afterglow" und "Bravery" setzt der Musiker auf die kühle Strenge seines elektronischen Fuhrparks, die er mit dezenten organischen Elementen durchsetzt. Herausgekommen sind klare Future-Pop-Songs, die eine gute Energie ausstrahlen und mit jeder Faser von Tom mehr denn je auch gelebt werden.

Fürwahr, e
s hat sich sichtlich was getan im Hause Assemblage 23. Gerade in "Static" zeigt sich der Mann mit Glatze und Ziegenbärtchen gesanglich ausgefeilter und experimentierfreudiger. Sein angerauhtes Organ bildet einen schönen Kontrapunkt zum klassischen Electro-Beat, der jedem 80er-Fetischisten ein Lächeln auf die Lippen und ein Tränchen ins Knopfloch zaubern wird. Die neue Stimmfarbe indes wird auch bei "Butterfly Effect" gewinnbringend eingesetzt und könnte wegweisend für weitere A23-Alben werden.

Um wie zuvor bei Mesh ein bisschen Femdsprachenklugscheißerei zu betreiben, bedeutet "Endure" auch hier zweierlei:
einerseits "Bestand haben", andererseits auch "aushalten" oder "ertragen". Eine nicht uninteressante Sichtweise: Vielleicht musste Tom die Emotionen als Sänger ertragen, um als Assemblage 23 weiter zu bestehen. Vielleicht waren die Songs früher einfach zu perfekt und zu glatt produziert, um dem Gefühl genügend Raum zu geben. Wie dem auch sei: "Endure" ist das bisher beste Album seit dem unerreichbaren "Failure".

||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 13.09.16 | KONTAKT | WEITER: KURZ ANGESPIELT 7/16 >


Webseiten
www.mesh.co.uk
www.assemblage23.com

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COVER © DEPENDENT/AL!VE (MESH), METROPOLIS RECORDS/SOULFOOD (ASSEMBLAGE 23)

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