1/25: THE HALO TREES, DESTROY ME AGAIN, FAZERDAZE, MYRNA LOY - INS NEUE JAHR RÜBERGERETTET, ERSTER TEIL
Kling & Klang > KURZ ANGESPIELT > 2025
Sich aus der Komfortzone herauszubewegen, ist zwar mit dem Risiko behaftet, aus Unwissenheit in Stolperfallen zu geraten, bietet aber gleichzeitig die Möglichkeit, seinen Horizont zu erweitern und eine neue Facette an sich selbst kennenzulernen. Ob es derart tiefenpsychologisch bei The Halo Trees zugegangen ist, als sie an "Electric Mirror" schrieben, kann hier nicht beantwortet werden. Die Idee jedoch, ausgewählte Stücke aus ihrem Backkatalog als elektronische Version zu veröffentlichen, löst zumindest beim Hören einen gewissen Aha-Effekt aus. Eigentlich für einen schummrigen Rocksound bekannt, der von der abgeschmirgelten Stimme von Sänger Sascha Blach liebevoll umarmt wird, tauscht die Band das Instrumentarium einmal komplett aus: Synthesizer, sogar dezente Autotune-Effekte ("Bringing Light Into The Room") und ein avantgardistisches Flair, wie man es von Deine Lakaien kennt, bestimmen nun die Songs, die sich in ihrem Kern natürlich nicht stark geändert haben. Es ist aber weiterhin sehr erstaunlich, wie völlig anders die Songs klingen und gleichzeitig immer noch sinnvoll und nachvollziehbar wirken. Dabei experimentieren The Halo Trees stilsicher mit den zur Verfügung stehenden Mitteln. "Happy Man" mäandert mit Flüstertüten-Gesang und creepy Arpeggios auf surrealen Pfaden. Die größte Überraschung bietet jedoch die Coverversion von Counting Crows traurig-schöner Nummer "Colorblind" mit einem nachgerade hymnischen Soundteppich, der einmal mehr beweist, dass The Halo Trees eine Zusammenrottung hochtalentierter Musikerinnen und Musiker ist, die sich offensichtlich in jedem Genre heimisch fühlen.
Mit seinem ersten Bandnamen Reichsfeind hatte der Frankfurter Timo Revna schlussendlich doch ein paar Probleme. Deswegen taufte er sein Projekt in Destroy Me Again um. Ein sinnvoller und wichtiger Moment, denn seine Musik hätte nicht zu seinem alten Namen gepasst. Denn Destroy Me Again machen "Dark Pop", wie DMA auf ihrer Bandcamp-Seite schreiben. Ein etwas schwammiger Begriff, den es näher einzugrenzen gilt. Zwar ist das ewige Vergleiche ziehen nicht immer zielführend, aber in diesem Fall nötig, um die musikalische Richtung auf dem ersten Album "Cold By Design" nachvollziehbar zu halten. Um es auf einen Satz runterzubrechen: Neuroticfish trifft auf Mind.In.A.Box. Das liegt zu einem am tanzbaren, aber stets melancholischen Future-Pop, zum anderen an den massiven Einsatz von Gesangseffekten (einfach mal "Altered State" anhören). Destroy Me Again klingt wie ein Roboter, der unter seiner verchromten Hülle sein Herz und seine Menschlichkeit entdeckt hat. Dabei ist der große Pluspunkt von Timo Revna, dass er sehr genau weiß, wie er seine vollelektronischen Kleinode zu arrangieren hat, dass sie gleich beim ersten Hören verfangen. Nicht zuletzt ist auch Timos Stimme ein herausragendes Markenzeichen, denn sie entspricht aktuellen Hörgewohnheiten. Ein Stück wie "Titan" könnte daher auch in der prosperierenden NNDW-Szene reüssieren. "Cold By Design" ist die konsequente Weiterentwicklung einer spannenden musikalischen Karriere, die unbedingt weiter verfolgt werden muss.
Nicht selten ist Musik nicht nur Berufung sondern auch Therapie und Selbstfindung. Auf Fazerdazes aktuellem Werk "Soft Power" kann man der Musikerin, die eigentlich Amelia Murray heißt, beim sich selbst Bewusst werden zuhören. Denn mit ihrer ersten Veröffentlichung "Morningside" vor sieben Jahren erhielt sie nicht nur erste Aufmerksamkeit, sondern durchlebte eine von Hürden und Widerständen gezeichnete Zeit. 2022 dann die EP "Break!" - ein Titel wie ein klares Statement, dass sich bei Fazerdaze einiges getan hat. Musikalisch auf jeden Fall. Aus dem anfänglich noch schüchternen Schlafzimmer-Pop hat sich ein raumgreifender Sound entwickelt, bei dem Murray zwar immer noch mit einer gewissen Scheu, aber auch im vollen Bewusstsein ihres Könnens ihre Songs zum Besten gibt. Hin und wieder schafft sie es sogar, richtig lecker poppig zu klingen ("Dancing Years") oder in einem kleinen Stolperbeat und einer naiven Synthiemelodie der Avantgarde kurz zuzuwinken ("A Thousand Years"). In jeder Hinsicht besticht das neue Fazerdaze-Werk durch den unabdingbaren Drang, Stücke zu schaffen, die nicht weniger als für die Ewigkeit geschaffen sein sollen. Dass ihr das gelingt, liegt auch an Murrays bedingungslose Liebe zu sich und ihrer Kunst. Und wenn man sich schließlich in den wunderbaren Klängen von "Cherry Pie" verliert, hat Fazerdaze längst sein Ziel erreicht.
Manchmal gibt es Bands, die nicht den großen kommerziellen Erfolg haben und keine breite Akzeptanz in der Bevölkerung. Und dennoch werden sie von jenen, die Notiz von ihr genommen haben, in höchsten Tönen gelobt. So geschehen bei Myrna Loy, einer aus Bonn stammende Gruppe, die in den späten 80ern und frühen 90ern drei Alben veröffentlichten, ehe das Gespann wieder von der Bildfläche verschwand. Benannt nach einer amerikanischen Filmschauspielerin, konnte bereits das Debütalbum "I Press My Lips In Your Inner Temple" positive Kritiken einheimsen. Tatsächlich war ihr mystisch angehauchter Sound von internationaler Größe und stand damit in der Tradition diverser Bands des renommierten 4AD-Labels. Zum 35. Geburtstag wurde dieses Werk, das sich auf der Schnittstelle zwischen Ethereal Wave, Ambient und Popmusik bewegte und von einer ähnlichen künstlerischen Kraft durchzogen ist wie Propagandas "A Secret Wish", noch mal neu (und leider nur) als digitaler Rerelease auf den Markt geworfen. Niemand geringeres als Blank & Jones, seit jeher Spezialisten für die Restaurierung von 80er-Juwelen, hat sich dieser Aufgabe gewidmet - natürlich unter strenger Beobachtung der ehemaligen Bandmitglieder. Sie dürften aber mehr als zufrieden sein, ihr Erbe in Form von eindringlichen Stücken wie "Lebetor" oder "Decamerone" in frischem Sound zu hören. Komplettiert mit diversen Liveaufnahmen (auf denen auch unveröffentlichte Nummern zu hören sind), wird noch einmal die Magie von Myrna Loy zum Leben erweckt.
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Covers © COP International (The Halo Trees), Infacted Recordings (Destroy Me Again), PIAS/Partisan Records (Fazerdaze), Lost Albums (Myrna Loy)
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© || UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR | IM NETZ SEIT 02/04/2014